Die menschliche Superkraft

Editorial zur Ausgabe 10 zum Schwerpunkt »Die imaginierte Wirklichkeit« ​

Dr. Ute Schönfelder, Redakteurin, Abteilung Hochschulkommunikation

Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Hand aufs Herz: Was fällt Ihnen ein, wenn Sie den Begriff Romantik hören? Sonnenuntergänge, idyllische Landschaften, Gemütlichkeit bei Kerzenschein? Damit sind Sie vermutlich nicht allein und doch vom Kern der Epoche der Romantik weit entfernt. Denn der offenbart sich nicht nur im schwärmerischen, mystifizierenden oder melancholischen Blick auf die Welt. Vielmehr hat uns die Literatur und Kunst der Romantik das Bewusstsein für unsere Vorstellungskraft geschenkt, Denk- und Reflexionsräume eröffnet und so vollkommen neue künstlerische Ausdrucksformen ermöglicht.

Im Jahr des 250. Geburtstages des romantischen Dichters und Philosophen Novalis, der u. a. in Jena studiert hat, schauen wir in der vorliegenden Ausgabe der LICHTGEDANKEN auf diese – die Moderne prägende – Epoche, deren Anfänge in Deutschland in der Universität Jena liegen. Heute wird hier in vielfältiger Weise zur Romantik geforscht. In Interviews und Berichten gehen wir der Romantik in Literatur und bildender Kunst nach und spüren ihr Fortwirken in gegenwärtiger Politik und Gesellschaft auf.

Wie die Menschen der frühen Romantik stehen auch wir heute vor großen Herausforderungen. Waren es zu Beginn des 19. Jahrhunderts die einschneidenden Veränderungen infolge der Französischen Revolution, die ganz Europa erfassten, verlangen heute die Klimakrise oder die anhaltende Corona-Pandemie nach neuen politischen und gesellschaftlichen Handlungsweisen und Strukturen. Dabei müssen wir Ungewissheiten aushalten und erkennen, dass empirisches Wissen Zeit braucht, um zu wachsen, während es zunächst oft widersprüchlich erscheint. Dennoch müssen wir Entscheidungen treffen – auch dann, wenn wir noch nicht jedes Detail möglicher Konsequenzen kennen. Dass solches »Nichtwissen« nicht zwangsläufig ein Makel ist, sondern in vielen Lebensbereichen sogar von Vorteil sein kann, darüber können Sie einen Kommentar in diesen LICHTGEDANKEN lesen. Forschende unserer Universität geben zudem Auskunft darüber, wie sie Wissen und Nichtwissen mit der breiten Öffentlichkeit teilen und begründen, warum wir Wissenschaftskommunikation brauchen – auch und gerade angesichts von Zweifel und Skepsis gegenüber der Wissenschaft.

Zweifel und Unsicherheiten gehören in der Wissenschaft ganz selbstverständlich dazu. Die Pandemie zeigt auf, dass dies auch für das gesellschaftliche Miteinander gilt: Wir sind Betroffene und Betrachtende, Forschende und Forschungsobjekte zugleich. Sich dieser Ambivalenz bewusst zu sein und die Perspektiven immer wieder zu wechseln, das Individuelle und das Ganzheitliche zu betrachten und das nicht immer nur ernsthaft, sondern auch einmal verspielt oder mit einer Portion Ironie – all das lehrt uns die Romantik. Machen wir uns ihr Erbe zunutze! Vertrauen wir beim Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit sowohl wissenschaftlich-geprüften Methoden und empirischen Daten als auch unserer Fantasie, der einzigartigen menschlichen Superkraft!

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und freue mich über Feedback, Anregungen oder Kritik. Sie erreichen das Redaktionsteam und mich unter: presse@uni-jena.de.