Dr. Oliver Forstner vor dem »Globe of Science and Innovation« am CERN.

Einmal Strahlzeit, bitte!

Einblicke in die Arbeit an der Forschungseinrichtung CERN
Dr. Oliver Forstner vor dem »Globe of Science and Innovation« am CERN.
Foto: Oliver Forstner/Uni Jena

Das Halogen Astat zählt zu den seltensten Elementen der Welt. Weniger als 50 Gramm gibt es davon auf der Erde. Es entsteht, wenn radioaktive Schwermetalle wie Uran zerfallen, und existiert nur wenige Minuten, bevor es selbst zerfällt. Aufgrund dieser Flüchtigkeit können Physiker wie Oliver Forstner das »Unbeständige« – so die Übersetzung des griechischen Na­mens – nur mit beträchtlichem technischen Aufwand künstlich herstellen und erforschen. Entsprechende Großgeräte hält beispielsweise die For­schungseinrichtung CERN dafür bereit. Doch wie funktioniert eigentlich die Arbeit mit einer solchen Wissenschaftsmaschine?


Text: Sebastian Hollstein

»Zunächst ist eines ganz wichtig: Wenn man Antworten auf seine Forschungs­fragen bekommen will, dann sollte man nicht zu viel Respekt vor der Arbeit in solchen Einrichtungen haben«, sagt Oli­ver Forstner. Und der Jenaer Physiker muss es wissen, schließlich hat er be­reits während seiner Dissertation drei Jahre am CERN geforscht. 2019 kehrte er für einige Experimente zurück, um als Teil eines internationalen Forscher­teams mehr über Astat herauszufinden. Denn die Europäische Organisation für Kernforschung bietet am Standort in der Nähe von Genf die Ionenanla­ge ISOLDE (Isotope Separator On Line Device), mit der sich verschiedene Iso­tope herstellen lassen. Leitet man etwa einen durch einen Teilchenbeschleu­niger produzierten Protonenstrahl auf das Element Bismut, so werden dessen Atomkerne aufgespalten. Dabei entste­hen Astat-Isotope, die für weitere Expe­rimente weitergeleitet werden können.

Ein solches Vorhaben verlangt aller­dings einige Vorbereitungszeit. Zu­nächst müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Strahlzeit bei dem entsprechenden Großgerät beantragen. »Dafür erklärt man zum einen die be­reits geleisteten Vorarbeiten und den aktuellen Stand der Forschung«, sagt Forstner. »Zum anderen sollten schon detaillierte Planungen zum Experiment, das man in der Einrichtung durchfüh­ren will, vorliegen, da man eine konkre­te Anzahl an Acht-Stunden-Schichten am Gerät angeben muss.« Es gilt, mög­lichst genau abzuschätzen, wie lang der Aufbau und die Durchführung der Versuche dauern und wie viele Durch­läufe vermutlich benötigt werden, um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erhal­ten. Zum Auswahlprozess gehört auch eine mündliche Präsentation vor dem Gremium, das schließlich nach wissen­schaftlicher Relevanz entscheidet und Termine zuweist. Beim Astat-Projekt hat diese Bewerbungsphase etwa ein halbes Jahr gedauert.

Versuchsaufbau in der ISOLDE-Halle. Hinter dem Forscher befindet sich der Versuchsaufbau, in dem die Astat-Ionen mit den Laserstrahlen überlagert werden. Die Laser befinden sich in dem grauen Raum auf der ersten Etage des Treppenaufgangs. Der Forscher überwacht gerade mit einem Oszil¬loskop die vom Detektor kommenden Signale der auftreffenden neutralen Astat-Atome und macht dazu Notizen in das analoge Logbuch.

Foto: Oliver Forstner/Uni Jena

Orte des Experiments und der Begegnung

Ist der Zeitraum bewilligt, schließen sich weitere praktische organisatorische Vorarbeiten an. So müssen die Nutze­rinnen und Nutzer für die umfangrei­chen Registrierungen etwa medizini­sche Unterlagen vorweisen, die belegen, dass man fit genug ist, um unter solcher Belastung zu arbeiten. Außerdem sind sie dazu verpflichtet, im Vorfeld Strah­lenschutzkurse zu absolvieren. »Dank dieses Aufwandes kann man sich dann während der Zeit vor Ort weitestge­hend auf seine wissenschaftlichen Ver­suche fokussieren«, sagt Forstner. »In den Anlagen herrscht in der Regel eine sehr konzentrierte Atmosphäre, denn natürlich will jeder neue wertvolle Da­ten mit nach Hause nehmen, die ihn in seiner Forschung voranbringen, und nicht wertvolle Strahlzeit verschwen­den.«

Zentren wie das CERN sind zudem nicht nur Orte der Experimente, son­dern auch Orte der Begegnung. »Gera­de eine so große internationale Gruppe wie unsere kommt selten komplett zu­sammen – die Zeit der Versuche bietet dafür eine gute Gelegenheit, da sie den Grundstein für das weitere Vorgehen legt, das es zu besprechen gilt«, sagt Forstner. »Die Einrichtungen rund um solche Großgeräte halten meist eine ideale Infrastruktur für solche Treffen bereit. Gerade am CERN ist die In­ternationalität deutlich spürbar.« Das Schweizer Forschungszentrum bietet zudem ein sehr gutes Umfeld zur Ver­netzung – allerdings weniger während der Arbeitszeit als vielmehr in den Men­sen und Restaurants auf dem Campus. Hier entstehen neue Kontakte und mit­unter wertvolle Impulse für laufende oder zukünftige Projekte. Da könne es schon mal passieren, dass man bis in die Nacht zusammensitzt und über Experi­mente diskutiert oder auch über Fußball beispielsweise.

Das Team, dem Forstner angehört, be­nötigte etwa anderthalb Wochen Strahl­zeit. Rund um die Uhr arbeiteten seine Mitglieder in verschiedenen Schichten an der Anlage. Alle Rädchen griffen ineinander. »Zunächst bauten wir un­ser Experiment direkt am Teilchenbe­schleuniger an«, erklärt der Physiker. »Diese Installation wird noch einmal von einem Sicherheitsingenieur über­prüft. Wenn das Gerät in Betrieb geht, hält man sich dann überwiegend im Überwachungsraum auf, um bestimmte Werte zu kontrollieren, die aussagen, ob das Experiment generell geklappt hat.« Aus den dabei entstandenen Daten, die einige Festplatten füllen, destillieren die Forschenden dann am heimischen Schreibtisch wissenschaftliche Erkennt­nisse. Auch Oliver Forstner profitiert noch während seiner aktuellen Arbeit von den zurückliegenden Versuchen. Und die nächste Verabredung mit ISOL­DE ist bereits geplant.

Elektronenaffinität von Astat

Forstner und das Team beobachteten, wie zuvor produzierte negative Astat-Ionen in der eigens entwickelten Vorrichtung mit Laserlicht unterschiedlicher Wellenlänge bestrahlt wurden. Dabei konnten die Forscherinnen und Forscher messen, wie viel Energie nötig ist, um das zusätzli­che Elektron des Ions abzutrennen und das Ion somit in ein neutrales Atom zu verwandeln. Dank dieses Experiments konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Elektronenaffinität von Astat und seine Elektronegativität ge­nau bestimmen. Mit diesen Informationen und dem Ionisationspotenzial lassen sich schließlich die chemischen Eigenschaften des Halogens bestimmen. Solche Infor­mationen helfen nicht nur dabei, Grundla­genforschung voranzutreiben, möglicher­weise bereiten sie auch den Weg dafür, Astat im Kampf gegen Krebs einzusetzen. Medizinerinnen und Mediziner könnten es in Verbindung mit organischen Proteinen direkt an bestimmte Tumore leiten, die dann durch den Alpha-Zerfall des Ele­ments zerstört würden. So könnte »das Unbeständige« sogar Leben retten (DOI: 10.1038/s41467-020-17599-2Externer Link).