Klettern, Laufen, Forschen: Pharmazieprofessor Dr. Oliver Werz hat viele Interessen. Jedes einzelne verfolgt er mit Leidenschaft, allerdings ohne dabei die Bodenhaftung zu verlieren. Unser Autor porträtiert einen Wissenschaftler, der einfach nicht Nichtstun kann und der verrät, was Bouldern und wissenschaftliche Experimente gemeinsam haben.
Text: Till Bayer
»Der Junge ist hyperaktiv!« Oliver Werz muss lachen, wenn er sich heute an die Worte seiner Mutter erinnert. Seit seiner Kindheit, die er im schwäbischen Reutlingen verbrachte, widmete er sich leidenschaftlich so ziemlich allem, was mit Sport und Naturwissenschaften zusammenhing. Früh begeisterte er sich etwa für Reptilien und Amphibien; gleichzeitig ging er den Sportarten Handball, Schwimmen und Geräteturnen nach. Werz war immer in Bewegung. Nebenher fing er an, sich für Gartenbau zu interessieren und züchtete Kakteen. Während seine Freunde für Rockmusik und Motorräder schwärmten, wurde Oliver Werz mit 17 Jahren Mitglied im Kakteenzuchtverein.
Nach dem Abi wollte Werz zunächst eine Karriere als Gartenbauingenieur einschlagen. Doch es kam anders: Kurzentschlossen nahm er 1988 im nahegelegenen Tübingen ein Pharmaziestudium auf, um Apotheker zu werden und so die naturwissenschaftliche Neigung mit einer sicheren Berufsperspektive zu verbinden. Heute ist er Professor für Pharmazeutische Chemie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit gut einem Jahrzehnt lehrt und forscht er bereits hier. Die »Hyperaktivität« hat sich der heute 55-Jährige bewahrt – und nutzt sie im positiven Sinn.
Mit Naturstoffen den Entzündungsprozess steuern
Das gilt zunächst für seine Arbeit als Wissenschaftler: Werz ist an gleich drei Sonderforschungsbereichen der Jenaer Universität beteiligt und treibt ein Forschungsthema voran, das er über Jahre hinweg mühevoll etabliert hat: die Bildung und Funktionsweise sogenannter Lipidmediatoren. Dabei handelt es sich um Gewebshormone, die Entzündungsprozesse im menschlichen Körper steuern. Lassen sich diese Substanzen durch Wirkstoffe regulieren, könnte man so Entzündungen besser behandeln. Doch die Sache ist komplex: »Entzündungen sind natürliche Abwehrreaktionen des Körpers auf Viren, Pilze oder Bakterien«, erklärt Werz. Lipidmediatoren sorgen so einerseits dafür, dass die Erreger vertrieben werden und Körperschädigungen heilen können; andererseits verursachen sie damit Schmerzen, Schwellungen oder sogar Organschädigungen.
Werz sucht deshalb nach Wirkstoffen, welche die positiven Hormoneffekte verstärken und die negativen eindämmen und nimmt dabei vor allem Naturstoffe in den Blick, die oft breiter wirken können als synthetische Substanzen und außerdem weniger Nebenwirkungen besitzen. »In diesem Feld gibt es noch vieles zu erforschen«, sagt der Pharmazeut. »Mich motiviert, dass Entzündungen bei so vielen weit verbreiteten Erkrankungen wie Herzinfarkt, Krebs, Arthritis oder auch Rückenschmerzen die treibende Kraft sind.«
Ein schwedisches Wissenschaftsidol
Dass sich Werz ausgerechnet mit Lipidmediatoren befasst und dass er überhaupt eine wissenschaftliche Laufbahn einschlug, verdankt er einem Nobelpreisträger. Nach dem Studienabschluss im Jahr 1992 promovierte er über die 5-Lipoxygenase, ein Enzym, das ungesättigte Fettsäuren in Entzündungsbotenstoffe umwandelt. Damit war der erste Schritt in Richtung Entzündungsforschung getan. Der zweite Schritt führte ihn nach Schweden an das angesehene Karolinska-Institut in Stockholm. Dort bot sich ihm die Möglichkeit in der Gruppe von Bengt Samuelsson zu arbeiten. Samuelsson hatte die 5-Lipoxygenase entdeckt und dafür 1982 den Medizinnobelpreis erhalten. Eine riesige Chance für Werz, die er einfach nutzen musste, auch wenn sie rückblickend das Ende seiner geliebten Kakteensammlung besiegelte. Inzwischen war sie auf mehrere hundert Exemplare angewachsen und Werz konnte sie nicht einfach mit nach Stockholm nehmen. Die meisten der Pflanzen hätten das kalte Klima und die unterschiedlichen Lichtverhältnisse in Schweden nicht überlebt.
»Es war definitiv eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens«, blickt Werz zurück. »Bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir noch gut vorstellen, im weißen Kittel in der Apotheke zu stehen. In Schweden habe ich dann erkannt, dass meine wahre Leidenschaft der Wissenschaft gilt.« Das lag auch an Samuelsson. Er ermutigte Werz dazu, das Forschungsthema zu vertiefen, neuartige Experimente auszuprobieren und schließlich mit der Habilitation zu beginnen. Noch immer sieht Werz in ihm sein wissenschaftliches Vorbild: »Mir imponierte vor allem seine scharfe Denkweise, aber auch seine bodenständige Art«, erinnert er sich. »Von Anfang an nahm er sich viel Zeit und bot an, ihn mit Vornamen anzusprechen. Einen Nobelpreisträger hatte ich mir distanzierter vorgestellt.«
Zwischen Schreibtisch und Laufstrecke
Werz blieb zwei Jahre in Schweden, bevor es ihn zunächst zurück nach Frankfurt und dann nach Tübingen zog, wo er 2005 als Professor an die Universität berufen wurde. Im Jahr 2010 wechselte er, inzwischen Familienvater geworden, an die Universität Jena. Das familienfreundliche Umfeld, aber auch die vielen Kooperationsmöglichkeiten mit anderen naturwissenschaftlichen Bereichen, überzeugten ihn zu diesem Schritt und aus genau diesen Gründen blieb er Jena bis heute treu – mit einer kleinen Ausnahme: 2015 zog er mit der ganzen Familie für ein Semester in die USA nach Boston, um an der Harvard Medical School zu forschen.
An Jena gefällt Oliver Werz zudem, dass er nur wenige Schritte gehen muss, um mitten in der Natur zu sein. Dreimal wöchentlich geht er in den umliegenden Bergen laufen – um einen Ausgleich von den vielen Stunden am Schreibtisch zu haben. An den Wochenenden läuft er sogar regelmäßig gemeinsam mit einem Freund einen Halbmarathon: von den Fuchslöchern in Jena-Ost über das Paradies bis nach Lobeda und zurück. Für die Strecke von rund 21 Kilometern benötigt er nur etwas mehr als 90 Minuten.
Die Wissenschaft des Boulderns
Ehrgeizig ist Werz auch bei einer anderen Freizeitbeschäftigung, die er erst in Jena für sich entdeckt hat: dem Bouldern. Dabei handelt es sich um eine Variante des Kletterns ohne Seil und Gurt in Bodennähe. Als »Boulder-Opa«, wie Werz sich scherzhaft bezeichnet, macht er an der Wand vielen Jüngeren etwas vor und schafft selbst die höheren Schwierigkeitsgrade. Wenn er sich geschmeidig von Griff zu Griff nach oben hangelt, kommt ihm sein geringes Körpergewicht zugute, aber auch seine Klettererfahrung. Das Seilklettern betreibt er nämlich schon seit über 20 Jahren; über das Hobby lernte er seine Frau kennen. Am Bouldern reizt ihn vor allem die Komplexität der Trendsportart: »Es verhält sich damit wie bei einem wissenschaftlichen Experiment«, erklärt Werz. »Eine schwierige Boulder-Route muss man immer wieder versuchen und jedes Mal die Parameter ändern, bis sie gelingt.« Details wie eine veränderte Fußdrehung oder eine Gewichtsverlagerung würden darüber entscheiden, ob man den nächsthöheren Griff erreicht.
Laufen, Bouldern, die vielen Pflichten des Professorenberufs – es stellt sich die Frage, wie Werz das alles schafft. Auch dafür hat er eine Erklärung parat: »Ich versuche mein Leben so zu strukturieren, dass Job, Familie und Hobbys möglichst gut miteinander verknüpft sind.« Zum Beispiel nimmt er seine Laufsachen oft mit ins Büro, um auf dem Nachhauseweg zu trainieren. Und Bouldern bedeutet zugleich Familienzeit: Sein 13-jähriger Sohn, selbst ein talentierter Kletterer, begleitet ihn an Wochenenden in die Boulderhalle.
Immer in Bewegung bleiben, hin und wieder Dinge abseits des Mainstreams ausprobieren – an dieses Motto, dem Oliver Werz seit seiner Kindheit folgt, will er sich auch in Zukunft halten. Außerdem möchte er noch einmal für einen Forschungsaufenthalt ins Ausland gehen – vorausgesetzt, dass er danach nach Jena zurückkehren kann. Denn zumindest was seinen Wohn- und Arbeitsort betrifft, findet der Professor etwas Ruhe inzwischen ganz angenehm.