Prof. Dr. Norbert Frei lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena.

Experimentierfeld für die »Ostlandreiter«

Historiker Norbert Frei über die extreme Rechte in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Prof. Dr. Norbert Frei lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena.
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Ende Oktober hat Thüringen gewählt. Nachdem die AfD bereits in Brandenburg und Sachsen etwa ein Viertel der Wählerstimmen erhalten hat, erzielt die Partei in Thüringen ein ähnliches Ergebnis: 23,4 Prozent. Die Partei um den Rechtsradikalen Björn Höcke ist zweitstärkste Kraft im Freistaat. Zwei Tage nach der Wahl sprachen wir mit dem Zeithistoriker Prof. Dr. Norbert Frei, dessen Buch »Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus« im Februar 2019 erschienen ist.

Haben die Thüringerinnen und Thüringer die AfD trotz oder wegen Björn Höcke gewählt?
Ich hätte gerne gesagt, dass ein erheblicher Teil der Wähler die AfD trotz und nicht wegen Björn Höcke gewählt hat. Nach dem Überfall auf die Synagoge in Halle fällt mir das allerdings schwer. Ich hätte gehofft, dass jetzt mehr Menschen Abstand halten zu dieser Partei.

Ein Viertel der Stimmen für die AfD. Was sagt das über die Thüringer aus?
Das Wahlergebnis sagt etwas über die Situation in Ostdeutschland insgesamt aus. Die Volatilität im Wählerverhalten ist hier höher als im Westen. In der alten Bundesrepublik konnten sich die sozialmoralischen Milieus der Weimarer Zeit, die das Wahlverhalten lange maßgeblich prägten, nach der NS-Erfahrung zu einem guten Teil noch einmal rekonsolidieren. Diese Chance gab es in der DDR nicht - der Erosionsprozess ging einfach weiter.

Das erklärt aber nicht die Wahlergebnisse der zurückliegenden 30 Jahre.
Wir hatten im Osten Deutschlands seit 1990 eine viel größere Experimentierbereitschaft als im Westen. So fuhren beispielsweise die Liberalen in Sachsen-Anhalt zweimal große Erfolge ein, gute Ergebnisse erzielten mehrfach auch DVU und NPD. Im einstmals »roten Sachsen«, aber auch in Thüringen, waren über lange Zeit CDU-Ministerpräsidenten im Amt, die offenkundig vor allem als Persönlichkeiten gewählt wurden, weniger als Parteivertreter.

Woher kommt diese Experimentierfreudigkeit im Osten?
Ich denke, es liegt auch daran, dass es nach mehr als einem halben Jahrhundert diktatorischer Einparteienherrschaft wenig Bindungsbereitschaft gibt. So wird gern ausprobiert und geschaut, was gehen könnte. Die Linke beispielsweise wurde ja lange als Protestpartei wahrgenommen und deshalb gewählt - eine Rolle, die ihr die AfD inzwischen abgenommen hat.

Es fällt auf, dass die Führungskräfte der AfD beinahe ausschließlich aus dem Westen kommen. Wie passen diese Leute mit den Wählern im Osten zusammen?
In unserem Buch (»Zur rechten Zeit«) nennen wir sie die »Ostlandreiter«. Einige von ihnen - etwa Alexander Gauland, der freilich in Chemnitz aufwuchs und erst 1959 in den Westen kam - hatten Karrieren in und mit der CDU gemacht, gingen nach 1989 in den Osten und erblickten hier ein Deutschland, wie es im Westen schon lange nicht mehr existiert.

Wie meinen Sie das?
Aus deren Perspektive ist der Osten ein Deutschland ohne all die »Übel« der Vergangenheitsbewältigung, der Achtundsechziger und der Migration.

Das klingt nach einem Experimentierfeld für diese »Ostlandreiter«?
In der Tat glauben auch jüngere Leute wie der Publizist Götz Kubitschek im Osten ein in ihrem Sinne »bestellbares« Land gefunden zu haben. Hier leben sie ihre Vorstellungen aus von einem weißen, monokulturellen Deutschland, das es im Westen nicht mehr gibt. Das geht über bloßen Protest hinaus, dahinter stehen völkisch-rassistische Umgestaltungsambitionen.

Cover des aktuellen Buches von Norbert Frei und Kollegen.
Cover des aktuellen Buches von Norbert Frei und Kollegen.
Foto: Ullstein

Sie sprachen vorhin die politischen Milieus an bzw. die fehlende Bindung an solche Milieus in Ostdeutschland. Wie sieht dieser Befund mit einem Blick in die Vergangenheit aus?
Erstaunlicherweise passen die politischen Landkarten aus der Weimarer Zeit in vielen Regionen bis heute. In Hochburgen des politischen Katholizismus oder der Arbeiterbewegung hatte es die NSDAP bekanntlich am schwersten. Umgekehrt fiel die Propaganda der Nationalsozialisten in protestantischen Regionen viel früher und stärker auf fruchtbaren Boden, gerade hier in Thüringen. Auch nach 1945 hatten es die radikalen Rechten in solchen Regionen leichter - zum Teil bis heute.

Sie sind Zeithistoriker, doch wir bitten Sie, einen Blick nach vorn zu werfen!
Als Historiker sagen wir gern, die Prognose der Vergangenheit ist schwer genug! Aber im Ernst: Gerade habe ich mit einem Kollegen die Besorgnis geteilt, die Entwicklungen im Osten Deutschlands könnten nur der Vorschein sein für das, was uns in ganz Deutschland erwartet und was wir ja auch schon um uns herum in Europa und darüber hinaus erleben: eine Welle des Rechtspopulismus. Dass dieser mit der revolutionären Veränderung unserer Kommunikationsverhältnisse zusammenhängt - kurz: mit der Zerstörung der bürgerlichen Öffentlichkeit im Sinne von Habermas - scheint mir außer Frage zu stehen. Aber das ist natürlich nur ein Aspekt.

Das klingt eher pessimistisch.
Na ja, wenn es zutrifft, dass alles sehr viel fluider geworden ist, dann enthält diese Diagnose auch Momente der Hoffnung. Will sagen: Die Dinge können sich auch schnell wieder ändern, die AfD sollte sich ihrer Wähler nicht so sicher sein. Natürlich sind harte Rechte, Rassisten und Antisemiten bei der AfD gut aufgehoben, aber wer die Partei aus einer diffusen Proteststimmung heraus gewählt hat, der ist keine sichere Bank.

Björn Höcke darf als Faschist bezeichnet werden, so hat es ein Gericht festgestellt.
Auch wenn sich in dem, was er sagt und schreibt, entsprechende Bezüge zeigen lassen und über seine ideologische Nähe zum Nationalsozialismus kein Zweifel besteht: Wichtiger als die rechtliche Erlaubnis, ihm das Etikett »Faschist« anzuheften, ist doch, dass wir seine menschenfeindlichen Parolen auseinandernehmen, dass wir ihn und seine Partei inhaltlich stellen - und zeigen, dass nichts daran wirklich »bürgerlich« ist.

Interview: Katja Bär und Stephan Laudien