Sachsen, Brandenburg, Thüringen - Drei ostdeutsche Bundesländer haben in den zurückliegenden Monaten ihre Landtage gewählt. In alle drei Landesparlamente ist die AfD als zweitstärkste Kraft eingezogen, eine fremdenfeindliche, populistische Partei, die das Grundrecht auf Asyl infrage stellt, den menschgemachten Klimawandel leugnet und aus dem Euroraum aussteigen will. Was macht diese Partei gerade im Osten Deutschlands so erfolgreich? Die Soziologin Katja Salomo liefert Erklärungen.
Was treibt Menschen in Scharen dazu, ihre Stimme rechtspopulistischen Parteien zu geben? Soziologen, Psychologen, Politikwissenschaftler sind sich einig: es ist vor allem Angst. Angst vor der Globalisierung, Angst vor Überfremdung, Angst um den Arbeitsplatz. »Hinter all diesen Ängsten steckt im Prinzip die gleiche Befürchtung, nämlich, dass es einem in Zukunft schlechter gehen wird, dass man auf die Verliererseite rutscht — und zwar ungerechtfertigter Weise«, sagt Katja Salomo. Die junge Soziologin untersucht, welche Verbindung zwischen solch einer gefühlten Benachteiligung und dem Wahlverhalten von Menschen besteht.
»Oftmals resultieren aus einer vermeintlichen Benachteiligung fremden- und demokratiefeindliche Einstellungen«, konstatiert sie. Daher sei es nicht verwunderlich, dass Rechtspopulisten mit ihren vereinfachenden Lösungen, mit ihren auf Erhalt und Wiederherstellung alter Zustände ausgelegten Programmen, gerade in den neuen Bundesländern so erfolgreich sind. Denn ob sich Menschen benachteiligt fühlen, hängt vor allem von ihrer sozioökonomischen Situation ab. Nach der Wiedervereinigung erlebte der Osten wirtschaftlich eine Talfahrt: ganze Industriezweige brachen weg, die Arbeitslosigkeit stieg rasant und mit ihr der Erfolg populistischer Parteien.
Doch das allein erklärt nicht den Wahlerfolg der AfD heute, so Salomo. Schließlich habe Ostdeutschland in den zurückliegenden knapp 30 Jahren wirtschaftlich deutlich aufgeholt. Es gibt neue Wirtschaftszweige, vielerorts boomt der Tourismus, die Wirtschaftskraft der ostdeutschen Länder liegt im EU-Durchschnitt. Eine generelle Benachteiligung Ostdeutschlands gegenüber dem Westen Deutschlands lasse sich in wirtschaftlicher Hinsicht längst nicht mehr behaupten.
Die demografische Situation in Ostdeutschland ist extrem prekär
Dennoch sei die Situation im Osten in extremer Weise prekär, sagt Katja Salomo. »Es gibt kaum Regionen auf der Welt, in der die demografische Situation so problematisch ist, wie hier.« Zu diesem Ergebnis kommt Salomo in einer aktuellen Studie. Darin hat sie den Zusammenhang von intoleranten und demokratieskeptischen Einstellungen und dem Lebensumfeld der Menschen im Bundesland Thüringen untersucht. »Wäre Thüringen ein Nationalstaat, wäre es das Land mit der zweitältesten Bevölkerung — hinter Japan«, nennt Salomo einen Befund ihrer Studie. Nur sechs von rund 200 Staaten hätten zudem einen geringeren Anteil an Jugendlichen unter 15 Jahren. Und lediglich in neun Ländern weltweit gäbe es einen vergleichbaren Männerüberhang im Alter zwischen 15 und 49.
»Das führt zu einer demografischen Homogenität, die international und historisch beispiellos ist«, sagt Salomo. Und dieser Umstand könne in ebenso starkem Maße zu Abstiegsängsten und dem Gefühl benachteiligt zu sein führen, wie der wirtschaftliche Niedergang nach der Wende. Das sei insbesondere im ländlichen Raum zu spüren und könne mit erklären, warum gerade dort die Rechtspopulisten Wahlerfolge erzielen.
Denn während sich seit Ende der 1990er Jahre die Arbeitslosenquote in Thüringen nahezu halbiert hat, ist im gleichen Zeitraum das Verhältnis der über 50-Jährigen zu den unter 15-Jährigen Einwohnern um ein Viertel gewachsen. Mittlerweile leben fast viermal so viele Menschen über 50 in Thüringen als Kinder und Jugendliche unter 15. Warum die demografische Homogenität der Bevölkerung die empfundene Lebensqualität prägt, darüber kann auch Katja Salomo erst einmal nur spekulieren: »Wo Kinder und Jugendliche fehlen, fallen Freizeitangebote weg. Wenn durch Abwanderung die Bevölkerung schrumpft, werden Buslinien eingestellt oder Läden geschlossen. Es gibt weniger Musik- und Sportveranstaltungen, weniger Straßenfeste — all das, was soziales Leben ausmacht«, sagt die 33-Jährige. Dass überdurchschnittlich viele junge Frauen das Land gen Westen verlassen, verschärfe die prekäre demografische Situation. »Nach wie vor engagieren sich Frauen häufiger innerhalb der Familie und investieren mehr in nachbarschaftliche Beziehungen.« Die Wohn- und Lebenssituation, so betont Salomo, sei aber auch nur einer von mehreren soziostrukturellen Gründen, die erklären können, woher Fremdenfeindlichkeit und Demokratieskepsis kommen.
Geringe Arbeitslosigkeit - trotzdem zieht die Jugend weg
Persönlich inspiriert Katja Salomo, dass sie selbst in einer ostdeutschen Kleinstadt aufgewachsen ist und viele der Entwicklungen, die sie heute als Wissenschaftlerin untersucht, hautnah miterlebt hat. Auch in ihrem Heimatort, einer 1.000-Seelengemeinde in Sachsen, brachte die Wende den wirtschaftlichen Einbruch. Doch auch hier folgte darauf ein kontinuierliches Wachstum, die Arbeitslosigkeit sank, Straßen und Häuser wurden adrett saniert. »Doch es fehlte das Leben«, sagt Salomo. »Und das ist heute auch noch so. Es gibt nur wenige Buslinien, am Wochenende kommt man praktisch nicht aus dem Ort heraus, in dem es für junge Leute einfach nichts zu unternehmen gibt«, erinnert sie sich. Kein Kino, kein Klub, keine Sportmöglichkeiten. »Das ist frustrierend. Und wer weggehen kann, der geht weg.«
Doch was können die Politiker in Thüringen, Sachsen und anderen ostdeutschen Ländern gegen das Gefühl der Benachteiligung und die Abwanderung ihrer Landsleute tun? Katja Salomos Rezept klingt erst einmal paradox: »Dafür sorgen, dass die Leute, vor allem die jungen, rauskommen.« Das Wichtigste, was die Politik für die ländlichen Regionen tun könne, seien Investitionen in nachhaltige Mobilität. »Damit auch diejenigen, die noch nicht oder nicht mehr Auto fahren können, die Möglichkeit haben, am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben.« Letztendlich sei es dann doch wieder eine wirtschaftliche Frage: »Es muss Geld in die Hand genommen und Bus- und Bahnverbindungen müssen ausgebaut werden.« Trotzdem werden die ostdeutschen Länder auch weiterhin Menschen verlieren und die starke Alterung der ostdeutschen Bevölkerung wird fortschreiten, erwartet die Jenaer Wissenschaftlerin. Das Problem ließe sich nur aus gesamtdeutscher Perspektive angehen. Denn die Abwanderung aus Ostdeutschland sei gleichzeitig die Zuwanderung in die westlichen Bundesländer. »Man könnte sagen, der Osten Deutschlands hat den Westen in den zurückliegenden 30 Jahren demografisch subventioniert, mit jungen, vor allem gut ausgebildeten Menschen«, sagt Salomo. Aber perspektivisch werde sich die Alterung der Bevölkerung auch im Westen nicht aufhalten lassen. »Der Westen kann derzeit im Osten sehen, was auch auf ihn zukommt.« Es sei an der Zeit, sich darauf einzustellen.
Text: Ute Schönfelder