Der gewaltsame Tod des US-Amerikaners George Floyd durch Polizeigewalt im Mai dieses Jahres löste in den USA eine Welle von Protesten aus. Mittlerweile ist eine weltweite Bewegung entstanden, die Rassismus in Vergangenheit und Gegenwart anprangert. Eine Bewegung, die vor Deutschland keineswegs haltmacht.
»Wir müssen das Narrativ von der geglückten Demokratie hinterfragen, das in Folge der Wiedervereinigung geprägt wurde«, sagt Dr. Daniel Stahl von der Universität Jena. Der Historiker hat gemeinsam mit seinem Kollegen Jacob S. Eder Erfahrungsberichte von aus der Türkei stammenden Deutschen untersucht. »Die Erfahrungen und die Perspektive dieser Türkei-stämmigen Menschen unterscheidet sich grundlegend von den Erfahrungen der Mehrheitsgesellschaft«, sagt Daniel Stahl. Markante Einschnitte waren Gewalterfahrungen wie die Brandanschläge von Mölln oder Solingen und der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit diesen Gewalttaten. Dass Helmut Kohl nicht zur Trauerfeier für die Mordopfer von Solingen erschien, aus dem Bundeskanzleramt sogar die Rede von »Beileidstourismus« zu vernehmen war, werfe weniger ein Schlaglicht auf den damaligen Bundeskanzler als vielmehr auf die Gesellschaft. »Politiker wissen sehr genau, was erlaubt ist und was ihnen auf die Füße fällt«, konstatiert Stahl. Das gelte ebenso für Kommentare führender Politiker angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise 2015.
Ein Lehrstück seien zudem die zahlreichen Ermittlungspannen, wie sie bei den Brandanschlägen ebenso geschahen wie bei der Mordserie des sogenannten NSU. Stets wurden die Täter zunächst im Umfeld der Opfer gesucht, war von Milieu-Taten die Rede, von Auseinandersetzungen »unter Ausländern«.
Chance auf Wandel und zugleich Gefahr eines Roll-backs
Für die als fremd markierte Gruppe von Menschen sei es immer wieder um Fragen gegangen wie »Sind wir hier sicher? Können wir bleiben?« Die erlebte Gewalt habe ganz unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Viele hätten sich religiösen Identitätsangeboten zugewandt. Andere hätten Partizipationsrechte eingefordert. Als Beispiel für Letzteres nennt Stahl den Politiker Cem Özdemir. Gemeinsam mit anderen türkeistämmigen Politikern habe er eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts vorangetrieben, um Partizipationsmöglichkeiten von migrantischen Gruppen auszuweiten. Die Forderung nach Partizipation ziele auf etwas anderes als die Forderung nach Integration, die letztlich die Anpassungserwartungen einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber fremd Markierten benenne.
Der Idee von Geschichte als Fortschritt erteilt Daniel Stahl eine Absage. »Die Geschichte sehe ich eher als eine Abfolge von Konflikten!« Ab und zu gebe es geschichtliche Momente, in denen vieles zusammenkomme und Wandel sich verdichte. Die gegenwärtige Situation sei ein solcher Moment, der neue Möglichkeitsfenster eröffne, aber auch die Gefahr eines Roll-backs berge. Man müsse sie nutzen um beispielsweise Lehrpläne, Polizeigesetze und auch das Mietrecht zu überarbeiten. Es bleibe zu hoffen, dass dieser Moment nicht ungenutzt verstreicht.
Text: Stephan Laudien
Die Ergebnisse ihrer Befragung haben Daniel Stahl und Jacob S. Eder in einem Beitrag zur Festschrift »Die Demokratisierung der Deutschen«Externer Link veröffentlicht, die im Frühjahr 2020 erschienen ist.