Die Soziologinnen Prof. Dr. Silke van Dyk (r.) und Dr. Tine Haubner forschen zur Freiwilligenarbeit.

(Un)Freiwillige Stützen des Wohlfahrtsstaates

Das Ehrenamt – ein Amt mit Schattenseiten
Die Soziologinnen Prof. Dr. Silke van Dyk (r.) und Dr. Tine Haubner forschen zur Freiwilligenarbeit.
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Das Ehrenamt genießt höchstes Ansehen. Wer sich freiwillig für andere engagiert, beweist schließlich Gemeinsinn und Verantwortungsbewusstsein. Zwei von fünf Deutschen engagieren sich heute freiwillig, Tendenz steigend. Und dennoch: Die Soziologinnen Prof. Dr. Silke van Dyk und Dr. Tine Haubner sehen den Freiwilligen-Boom kritisch. Das Ehrenamt - ein Amt mit Schattenseiten.

Kleiderspenden sammeln, Kindern bei den Hausaufgaben helfen, Demenzkranke betreuen, Geflüchtete zu Behördengängen begleiten - Immer mehr Menschen in Deutschland arbeiten für einen guten Zweck freiwillig, unbezahlt oder nur geringfügig entlohnt. »Das verdient natürlich Anerkennung und ist für viele Menschen sehr erfüllend«, sagt Prof. Dr. Silke van Dyk. Trotzdem sieht die Soziologin der Friedrich-Schiller-Universität das Phänomen kritisch. Denn: Der Staat instrumentalisiere die Arbeit der Freiwilligen gerade im sozialen Bereich in unzulässiger Weise. »Zudem ist die Freiwilligenarbeit oftmals gar nicht so freiwillig gewählt, vor allem dann, wenn Engagierte auf die Aufwandsentschädigungen angewiesen sind«, bringt van Dyk das Problem auf den Punkt.

Staatlich unterstützte Schattenwirtschaft

Seit einigen Jahren schon beobachten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen tiefgreifenden sozioökonomischen Wandel. Während sich Staat und Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten darauf stützen konnten, dass Frauen unbezahlt ganztags Hausarbeit und Kindererziehung übernahmen, sind heute auch Frauen in der Regel berufstätig. Angebote zur Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen gibt es bei weitem nicht in ausreichendem Maße. Stellt sich die Frage, wer die Tätigkeiten jetzt übernimmt, die früher häufig rein familiär von Frauen aufgefangen wurden. Und die, angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland, in stetig größerem Umfang anfallen werden. Die Antwort, so Dr. Tine Haubner, laute in vielen Fällen: Freiwillige.

Prinzipiell sei natürlich gegen freiwilliges Engagement nichts einzuwenden. Doch wenn zentrale Aufgaben der Daseinsvorsorge unentgeltlich oder nur mit Aufwandsentschädigung entlohnt von Freiwilligen ausgeführt werden, berge dies die Gefahren von Informalisierung und De-Professionalisierung. »Man kann dabei durchaus von staatlich unterstützter Schattenwirtschaft sprechen«, sagt van Dyk, »denn die Grenzen zwischen freiwilligem Engagement und Niedriglohnbereich verlaufen inzwischen immer häufiger fließend

Zunehmend würden freiwillig Engagierte mit finanziellen Anreizen zu Tätigkeiten im sozialen Sektor gelockt - allerdings jenseits von Mindestlohn und arbeitsrechtlichen Standards. »In der Pflegeversicherung sind Geldleistungen für Engagierte vorgesehen, es gibt die Übungsleiter- und die Ehrenamtspauschale und natürlich den Bundesfreiwilligendienst mit Aufwandsentschädigungen«, zählt van Dyk Beispiele auf.

Hinzu komme die Frage der Professionalität. Wenn Engagierte Deutschkurse anbieten und Freiwillige Rechtsberatung für Geflüchtete übernehmen, stellen sich Fragen der Qualität der Leistungen. Besonders brisant sei die Situation in der Pflege, betont Haubner, die in ihrer Promotion zur Ausbeutung der Laienpflege in Deutschland geforscht hat. »Insbesondere ältere Frauen bessern ihre geringe Rente mit dem Engagement in Pflegehaushalten auf

Zwar haben Freiwillige ein klar von den Aufgaben professioneller Pflegekräfte abgegrenztes Aufgabenspektrum. In der Praxis kommt es aber immer wieder zu Überschneidungen, etwa wenn eine freiwillige Pflegekraft mit einer pflegebedürftigen Person nicht nur durch den Park spaziert, sondern diese während des Spaziergangs zur Toilette begleitet oder sie bei der Einnahme von Medikamenten unterstützt. »Die Zuständigkeiten werden in den Pflegehaushalten nicht kontrolliert. Oftmals stopfen Freiwillige so die Lücken, die im täglichen Stakkato der Minutenpflege entstehen«, sagt Tine Haubner.

Lebensmitteltafeln – Arme helfen Armen

Diese Art der Schattenökonomie führt dort, wo es an Angeboten des Wohlfahrtsstaats mangelt, zu Doppelstrukturen: diejenigen, die es sich leisten können, bezahlen für professionelle Leistungen auf dem regulären Arbeitsmarkt. Diejenigen, denen die Mittel dafür fehlen, sind auf die Angebote von Freiwilligen angewiesen. Während Engagement und Ehrenamt historisch ein Betätigungsfeld der bürgerlichen Mittelschichten war, beobachten die Forscherinnen aktuell ein Phänomen, dass sie »Arme helfen Armen« nennen. Bestes Beispiel dafür sind die Tafeln, bei denen gespendete Lebensmittel an Bedürftige verteilt werden. Hier engagieren sich häufig diejenigen, die selbst auf Tafeln angewiesen sind, etwa Langzeitarbeitslose oder von Altersarmut betroffene Seniorinnen und Senioren. »Wir beobachten, dass Menschen aus dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt, die im Rahmen von Fördermaßnahmen beschäftig sind, danach nicht in den ersten Arbeitsmarkt wechseln, sondern als Freiwillige bleiben – oft in der Hoffnung auf weitere Maßnahmen und weil ihnen die Tätigkeit Struktur gibt«, sagt Silke van Dyk.

Weitere Schattenseiten der Freiwilligenarbeit decken van Dyk und Haubner mit ihren Kolleginnen Dr. Emma Dowling und Laura Boemke im Rahmen einer aktuell laufenden Studie auf. Darin vergleichen sie die Ausprägung von Ehrenamt und Freiwilligenarbeit in Ost- und Westdeutschland - konkret in den Bundesländern Baden-Württemberg und Brandenburg. »In Sachen Ehrenamt und Freiwilligenarbeit sind Ost- und Westdeutschland, auch 30 Jahre nach der Wende, noch immer getrennte Welten«, konstatiert Tine Haubner.

Abgesehen davon, dass sich in Baden-Württemberg – anders als im Osten Deutschlands – durchaus noch die klassische, karitativ engagierte bürgerliche Hausfrau findet, genießt freiwilliges Engagement im Südwesten der Republik grundsätzlich sehr hohes Ansehen. In Brandenburg dagegen sieht das anders aus. Hier findet das Engagement nah am Arbeitsmarkt statt: Menschen pendeln zwischen Niedriglohnsektor, Engagement und Arbeitsamtsmaßnahmen oder sie bessern ihr Arbeitslosengeld im Bundesfreiwilligendienst auf. Drei von vier Freiwilligen über 27 Jahren sind hier Langzeitarbeitslose. So überrascht es nicht, dass Engagement und Freiwilligenarbeit in Brandenburg ein wesentlich schlechteres Image haben als in Baden-Württemberg. Engagement wird in Brandenburg häufig mit »umsonst arbeiten« gleichgesetzt. Im Westen ist es den meisten freiwillig Engagierten dagegen sehr wichtig, dass Freiwilligenarbeit unbezahlt geleistet wird. »Freiwilligkeit bedeutet ja auch Freiheit und Unabhängigkeit«, sagt van Dyk. Im Osten sagt das so kaum jemand. »Hier sieht man das eher pragmatisch - wer arbeitet, verdient es auch, entlohnt zu werden

Besonders im ländlichen Raum finden die Jenaer Soziologinnen zudem ein beunruhigendes Phänomen vor. Viele Menschen, die sich hier freiwillig in der Flüchtlingshilfe engagieren, tun dies heimlich. »Sie reden nicht mit den Nachbarn oder Kollegen darüber, fahren nicht mit dem privaten PKW zur Aufnahmeeinrichtung«, berichtet Silke van Dyk. Sie fürchten Angriffe und Anfeindungen von rechtsextremen, fremdenfeindlichen Gruppierungen und haben diese häufig schon erlebt.

Freiwilliges Engagement bietet Freiraum für die Zivilgesellschaft

Trotz all dieser Probleme geht es van Dyk und Haubner aber keineswegs darum, das Engagement einzuschränken. »Als Gesellschaft brauchen wir die eigensinnige, manchmal auch widerständige Form des freiwilligen Engagements. Wir wollen keine 100-prozentig staatlich regulierte Welt, sondern brauchen Freiräume, in denen die Zivilgesellschaft gedeihen kann.« Wichtig für die Gesellschaft sei es jedoch, freiwilliges Engagement und sozialstaatliche Aufgaben klar voneinander abzugrenzen: zum Schutze derjenigen, die auf staatlich garantierte Leistungen angewiesen sind und zum Schutze des freiwilligen Engagements.

Text: Ute Schönfelder

In welchen Bereichen engagieren sich die Deutschen freiwillig? Die Zahlen geben den Anteil der Gesamtbevölkerung in Deutschland ab 14 Jahre an, der sich freiwillig engagiert. (Quelle: Deutscher Freiwilligensurvey des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)

Abbildung: Liana Franke