Herr Beelmann, wir erleben in den zurückliegenden Wochen und Monaten eine starke Präsenz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, vor allem Virologen, Epidemiologen, Hygieneexperten in den Medien. Ist das Interesse an Wissenschaft in der Gesellschaft im Zuge der Corona-Krise gewachsen?
Das Interesse an Wissenschaft ist im Moment zweifellos groß und einzelne Experten haben einen enormen Bekanntheitsgrad erlangt. Das geht mit einem deutlichen Anstieg des Ansehens von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einher, wie eine ganz aktuelle Studie des Allensbach-InstitutsExterner Link belegt: Wissenschaftler gehören demnach nach Ärzten und Richtern zu den vertrauenswürdigsten Berufsgruppen. Das klingt natürlich fantastisch. Doch bei genauerer Betrachtung ergibt sich ein ambivalenteres Bild.
Inwiefern?
Nun, das aktuell deutlich gewachsene Ansehen von Wissenschaftlern bedeutet nicht unbedingt ein gewachsenes Vertrauen in Wissenschaft an sich. In der genannten Studie geben 37 Prozent der Befragten — also ein gutes Drittel — auch an, dass sie der Wissenschaft gegenüber misstrauisch eingestellt sind. Und — noch problematischer aus meiner Sicht — über die Hälfte der Befragten sagt, dass bei politischen Entscheidungen die Stimme der Wissenschaft nur eine von mehreren sein soll. Wissenschaftliche Expertise wird offenbar als Meinung gesehen, als eine Sichtweise, die zu berücksichtigen ist, zu der es aber Alternativen, nämlich andere Meinungen gibt. Das halte ich für ein gravierendes Problem.
Sollten Wissenschaftler stärker in politische Entscheidungen einbezogen werden?
Wissenschaftler sollten keine politischen Entscheidungen treffen. Dafür haben sie kein Mandat. Aber ihre Stimme sollte deutlich mehr Gewicht haben als die der Öffentlichkeit oder anderer Berufsgruppen — nicht nur in solchen Krisen, wie wir sie jetzt erleben. Wenn beispielsweise Ihr Auto kaputt ist, gehen Sie zu einer Werkstatt und fragen nicht einen Schauspieler oder einen anderen Betroffenen, was er oder sie dazu meint. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine schlechten Automechaniker oder Wissenschaftler gibt. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus professioneller Expertise etwas Richtiges und Relevantes ergibt, ist doch um ein Vielfaches höher.
Man könnte argumentieren, Wissenschaftler müssten sich häufiger und vielleicht auch klarer zu Wort melden, um ihre Erkenntnisse in die politische Praxis und die Öffentlichkeit zu transferieren.
Was den Wissens- und Erkenntnistransfer angeht, muss man zwei Aspekte unterscheiden. Erstens die Sachebene, also wie Fachwissen in praktisches oder politisches Handeln übergeht. Während der Corona-Pandemie zum Beispiel sagen Virologen, dass Abstand halten und Mundschutz tragen hilft. Das ist von der Politik aufgenommen und als Maßnahme umgesetzt worden und auch die Bevölkerung hat das mehrheitlich mitgetragen. Das hat also zumindest in Deutschland sehr gut geklappt. Der zweite Aspekt von Wissenschaftstransfer liegt auf einer Metaebene und basiert darauf, wie Politik und Öffentlichkeit die Wissenschaft insgesamt sehen. Welche Vorstellung haben sie über Wissenschaft? Und da gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass es häufig falsche Wahrnehmungen gibt, aus denen Missverständnisse entstehen, oder gar abwertende Grundhaltungen.
Welcher Art?
Auch das konnte man jetzt in der Corona-Krise sehr gut beobachten. Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité hat in seinen Interviews und Podcasts versucht zu erklären, dass Wissenschaft oft uneinheitliche Ergebnisse produziert, Studien durch andere Untersuchungen bestätigt werden müssen und nicht jedes Einzelergebnis ausreicht, um daraus Empfehlungen abzuleiten. Das sind für Wissenschaftler ganz selbstverständliche Dinge, aber ein Teil der Öffentlichkeit und der Medien hat verstanden: Die Wissenschaftler sind sich nicht einig oder sie wechseln dauernd ihre Meinung.
Warum sprechen die Wissenschaftler dann nicht häufiger darüber, wie ihre Arbeit funktioniert, zum Beispiel mit Politikern?
Auf der Sachebene gibt es die Kommunikation durchaus. Auf der Metaebene findet sie bislang jedoch kaum statt. Nicht nur, weil eine solche Kommunikation anstrengend ist und viel Zeit braucht, die Politiker oftmals nicht haben. Sondern es setzt natürlich voraus, dass man sich überhaupt dafür interessiert. Dass Befunde permanent infrage gestellt werden, wollen viele nicht hören, obwohl das ein wesentliches wissenschaftliches Prinzip ist.
Dennoch zeigt sich gerade in der Corona-Krise, dass Wissenschaft das politische Handeln leitet.
Ja, der Fall der aktuellen Pandemie ist jedoch eine große Ausnahme. Dass es hier so schnell zu einem Schulterschluss von Politik und Wissenschaft gekommen ist, liegt daran, dass es sich um eine wirklich existentielle Krise handelt, bei der es sprichwörtlich um Leben oder Tod geht. Das war beim Auftreten von AIDS ähnlich. Aber das sind Ausnahmen. In vielen anderen Bereichen funktioniert das überhaupt nicht.
Zum Beispiel?
Bestes Gegenbeispiel ist der Klimawandel. Und auch in meinem eigenen Forschungsbereich mache ich immer wieder gegenteilige Erfahrungen. Ich bin seit vielen Jahren in der Präventionsforschung tätig. Und das Problem mit Präventionsmaßnahmen ist — egal ob es um Drogenkonsum, Gewaltkriminalität oder neuerdings Radikalisierung geht — dass es erst zur Katastrophe kommen muss, bis auf politischer Seite in Prävention investiert wird. In Thüringen sind zum Beispiel erst dann Schulpsychologen verstärkt eingestellt worden, nachdem es 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium zu einem Massaker gekommen ist. Inzwischen sind diese Stellen jedoch schon wieder deutlich reduziert worden.
Wie ließen sich denn wissenschaftliche Erkenntnisse besser und nachhaltiger in die Öffentlichkeit und Politik transferieren?
Es gibt sicherlich kein Patentrezept. Aber es kann aus meiner Sicht nur funktionieren, wenn alle Akteure sich an der Kommunikation beteiligen. Und da bin ich momentan sehr skeptisch, was die Politik und die Medien betrifft. Journalisten unterliegen einem ungeheuren Produktionsdruck. Sie brauchen einfache Botschaften, die sich in einer Minute unterbringen oder in einer Schlagzeile formulieren lassen. Und das funktioniert mit komplexen wissenschaftlichen Themen in der Regel nicht. Dafür braucht es Spezialisten, Wissenschaftsjournalisten, die kompetent und unabhängig berichten und nicht nur spektakuläre Ergebnisse aufgreifen, sondern Wissen vermitteln und einordnen. Aber um eben diesen Wissenschaftsjournalismus ist es derzeit nicht gut bestellt. Ich hoffe, dass uns die Corona-Krise helfen wird und ein Bewusstsein schaffen kann, dass wir solche Transferexperten brauchen.
Was könnten die Wissenschaftler selbst beitragen?
In erster Linie natürlich gute Forschungsarbeit leisten. Ein wichtiger Ansatz, den ich auch in meiner eigenen Arbeit schon lange verfolge, ist die Zusammenfassung von Einzeluntersuchungen in Metastudien. Es ist ganz normal, dass es in unterschiedlichen Studien unterschiedliche Ergebnisse gibt, selbst wenn sie das gleiche Thema zum Inhalt haben. Metastudien helfen, diese Varianz einzuordnen, was bei der Vermittlung in die Öffentlichkeit hilft. Außerdem erzielt man nach meinen Erfahrungen eine deutlich höhere Resonanz, wenn man den Kenntnisstand zu einer Frage systematisch zusammenträgt, als wenn man mit einer — oftmals selektiv ausgewählten — Studie daherkommt. Es findet sich dann immer ein wissenschaftlicher Kollege, der eine andere Studie mit widersprechenden Ergebnissen zitieren kann.
Dessen ungeachtet sollten sich Wissenschaftler meiner Meinung nach auch gut überlegen, ob sie tatsächlich in jeder Talkshow auftreten müssen. Oft erweisen sie der Forschung damit einen Bärendienst, nämlich dann, wenn sie aus dramaturgischen Gründen als eine Stimme unter vielen zu Wort kommen. Wie eingangs schon gesagt, wissenschaftliche Expertise ist keine Meinung.
Bleibt noch die Politik. Welche Verantwortung tragen die Politikerinnen und Politiker?
Hier können wir noch einmal auf die aktuelle Situation schauen. In dieser existenziellen, globalen Krise waren Politiker bereit, sich von wissenschaftlichen Befunden leiten zu lassen und nicht vorrangig eigenen politischen Interessen zu folgen, wohl auch um bei ausbleibenden Erfolgen nicht verantwortlich zu sein. Das ist aber alles andere als selbstverständlich. Politiker müssten all die wissenschaftlichen Gutachten und Empfehlungen von Expertengremien, die sie oft genug selbst in Auftrag geben und finanziell fördern, auch umsetzen. Das passiert erstaunlich selten. Ich selbst habe an etlichen Auftragsstudien mitgearbeitet, die in irgendeiner Schublade verschwunden sind, weil sich die politische Situation geändert hat und etwas anderes opportun wurde. Es ist schon länger bekannt, übrigens auch international, dass politische Entscheidungsträger wissenschaftliche Erkenntnisse vor allem selektiv berücksichtigen, und zwar vorrangig solche, die ihren Interessen dienen. Das bedeutet, dass die politisch Verantwortlichen auch bereit sein müssten, sich gegen parteipolitische Interessen zu entscheiden, wenn es wissenschaftliche Gründe dafür gibt. Und es ist ihre Pflicht, sich im Dienste der Bevölkerung zu informieren, und nicht die Pflicht der Wissenschaftler, ihnen hinterher zu laufen. Die Corona-Krise zeigt, dass das funktionieren und zum Allgemeinwohl beitragen kann.
Interview: Ute Schönfelder
Weiterführende Literatur:
Bromme, R. & Beelmann, A. (2018). Transfer entails communication: The public understanding of (social) science as Stage and Play for implementing evidence-based prevention knowledge and programs. Prevention Science, 19, 347-357. DOI: 10.1007/s11121-016-0686-8Externer Link
Beelmann, A., Malti, T., Noam, G. & Sommer, S. (2018). Innovation and integrity: Desiderata and future directions for prevention and intervention science. Prevention Science, 19, 358-365. DOI: 10.1007/s11121-018-0869-6Externer Link
Beelmann, A. (2014). Möglichkeiten und Grenzen systematischer Evidenzakkumulation durch Forschungssynthesen in der Bildungsforschung. Zeitschrift für Erziehungswissenschaften (Sonderheft: Von der Forschung zur evidenzbasierten Entscheidung), 17 (Supplement 4), 55-78. DOI: 10.1007/s11618-014-0509-2Externer Link