
Mit dem im Frühjahr 2024 gegründeten Senckenberg-Institut für Pflanzenvielfalt erhält die Jenaer Landschaft zur Biodiversitätsforschung einen weiteren wichtigen Baustein hinzu. Im Interview berichtet die Direktorin des neuen Instituts Prof. Dr. Christine Römermann, die an der Universität Jena die Professur Biodiversität der Pflanzen inne hat, wie die neuen Strukturen das Forschungsspektrum erweitern und das Herbarium Haussknecht noch stärker bereichern kann.
Interview: Sebastian Hollstein
Biodiversitätsforschung hat in Jena eine lange Tradition und ist ein wichtiges Forschungsgebiet der Universität. Wie fügt sich das neue Senckenberg-Institut in diese Thematik ein?
Wir können uns nun viel intensiver und auf sehr vielen unterschiedlichen Ebenen allen Komponenten der Biodiversität in der Pflanzenwelt widmen. Beispielsweise wollen wir untersuchen, wie sich Arten an zeitlich veränderte Bedingungen angepasst haben, welche Rolle ihre Merkmalsausstattung dabei spielt und ob sie sich stärker verbreitet haben oder möglicherweise verschwinden. Evolutionäre Prozesse spielen bei der Veränderung von Biodiversität ebenso eine Rolle, wie der Einfluss des Menschen, etwa durch die Landnutzung und den Klimawandel. Unsere Forschungsschwerpunkte fügen sich sehr gut ein in die bisherigen Aktivitäten an der Universität Jena und ergänzen die derzeitige Forschungslandschaft – bestehend etwa aus dem Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung oder dem Jena-Experiment und vielen weiteren Initiativen. Durch unsere Sammlungsbestände im Herbarium Haussknecht und die damit verbundene datenbezogene Biodiversitätsforschung können wir eine Vielzahl neuartiger Informationen nutzen und Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung stellen.
Die damalige Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger sagte im Juni 2024 zur Gründung des neuen Instituts, dass der Wissenschaftsstandort Deutschland davon profitieren werde. Welche Potenziale werden nun freigesetzt?
Ein Ziel des neuen Instituts ist es, neue Methoden zu entwickeln, um Sammlungen noch besser zu nutzen und noch effizienter Informationen aus ihnen zu extrahieren. So werden wir zum Beispiel KI-Methoden entwickeln, um Etiketten automatisiert auszulesen – das klingt zwar einfach, aber wenn Sammlungsbestände über Jahrhunderte gewachsen sind, ist es nicht so leicht, die Handschriften zu entziffern und in Datenbanken zu übertragen. Dafür ist meist noch zeitaufwendige Handarbeit nötig. Wenn uns solche Erleichterungen – auch in Zusammenarbeit mit weiteren Kolleginnen und Kollegen der Senckenberg Gesellschaft und der Universität Jena – gelingen, dann können Sammlungen und Archive noch stärker in die aktuelle Forschung einbezogen werden, um beispielsweise Biodiversitätsveränderungen besser zu dokumentieren und zu verstehen.
Das neue Senckenberg-Institut ist auch das neue Dach des Herbarium Haussknecht, das mit über 3,5 Millionen Belegen eines der wichtigsten seiner Art in Europa ist. Was bedeutet die neue Struktur für diese Jenaer Sammlung?
Zum einen können wir alle Sammlungsbestände nun fachgerecht an einem Ort unterbringen. Dadurch und durch die neue personelle Situation starten wir zum anderen jetzt mit einer großen Digitalisierungsinitiative des Herbariums, so dass die Belege vollumfänglich der Wissenschaftsgemeinschaft für weitergehende Forschungsfragen zur Verfügung gestellt werden. Das hilft uns und vielen Kolleginnen und Kollegen weltweit bei ihrer Forschung, etwa für taxonomisch-systematische Studien oder wenn sie phänologische Veränderungen und Verbreitungsmuster von Arten untersuchen.
Wie wird denn das Herbarium in aktuelle Forschung einbezogen?
Ein kürzlich abgeschlossenes Dissertationsprojekt an der Universität Jena in Zusammenarbeit mit dem Senckenberg Museum in Görlitz und der Martin-Luther-Universität Halle im Bereich der funktionellen Biodiversitätsforschung widmet sich beispielsweise der Frage, wie sich die Nährstoffkonzentration in den Blättern bei Pflanzen innerhalb mehrerer Jahrzehnte verändert hat. Generell beobachten wir einen Anstieg der Stickstoffkonzentration in den Blättern im Laufe der vergangenen 100 Jahre. Für diese Arbeit erhob der Doktorand aktuelle Daten in der Umgebung von Jena und Görlitz und verglich sie mit historischen Werten aus Herbarbelegen. Denn auch aus den Pflanzenteilen aus der Sammlung lassen sich noch heute solche Informationen herauslesen, ohne die Exponate für entsprechende Untersuchungen zu zerstören. Dafür messen wir den Stickstoffgehalt gegenwärtiger Pflanzen durch chemische Analysen und durch Nahinfrarotspektroskopie und erstellen daraus ein Modell. Auf dieser Vergleichsgrundlage können wir mittels spektralem Fingerabdruck Daten über den Stickstoffgehalt aus jahrzehnte- oder jahrhundertealten Herbarbelegen erheben, ohne diese Belege zu zerstören.
Eine Pflanze wird mit einer Nahinfrarot-(NIR)-Spektroskopie-Sonde untersucht.
Foto: Nicole Nerger (Universität Jena)Die Sammlung hilft aber nicht nur bei der biologischen Forschung – sie wird selbst zum Forschungsgegenstand. Es wird eine neue Professur zum Gebiet »Digital Collectomics« geben – was bedeutet das?
Diese Professur wird sich mit sämtlichen Fragestellungen rund um die Digitalisierung von Informationen aus Sammlungen beschäftigen. Gibt es KI-Methoden, die technologische Erfassungsprozesse optimieren? Muss man etwa jedes Exponat einzeln vermessen oder gibt es dafür automatisierte Verfahren? Wie lassen sich Datenbanken verknüpfen, um ganz unterschiedliche Informationen zu einem Eintrag bzw. einem Pflanzenbeleg zu erhalten – beispielsweise das Vorkommen einer Pflanzenart mit weiteren Informationen zu der Art zu verbinden – wir sprechen hier von den »extended specimens«.
Können möglicherweise Bestimmungs-Apps für Pflanzen auf Herbar-Datenbanken zugreifen, so dass die Bevölkerung stärker die wissenschaftlichen Grundlagen nutzen kann?
Vieles von dem, was in diesem Bereich mit dem Herbarium möglich ist, können wir uns heute vermutlich noch gar nicht vorstellen. Und diese Arbeit kann auch für andere Sammlungen interessant sein.
Welche neuen Forschungsgebiete oder -schwerpunkte können Sie durch die neue Struktur stärker in den Fokus nehmen?
Es wird hier in Jena beispielsweise zukünftig die deutschlandweit einzige Professur für Ökologie und Evolution der Moose geben. Moose spielen eine ganz wichtige Rolle in unseren Ökosystemen. Sie sind sehr gute Bioindikatoren und zeigen etwa an, wenn sich das Klima oder die Nährstoffsituation ändern oder wenn Umweltgifte vorhanden sind. So wie auch die Professur für Integrative Taxonomie der Pflanzen als Nachfolge der Professur für Spezielle Botanik wird sich diese Professur unter anderem mit Fragen zur Evolution von Arten unter Nutzung moderner, auch molekularer Methoden beschäftigen.
Sie konzentrieren sich in Ihrer eigenen Forschung vor allem auf die Veränderungen im zurückliegenden Jahrhundert – warum?
Der Mensch hat die Biodiversität verändert, auch in der Pflanzenwelt. Er hat die Kulturlandschaft geschaffen, wodurch die Artenvielfalt zunächst gewachsen ist. Durch zu starke Nutzung und den Klimawandel geht sie nun allerdings wieder zurück. Indem wir uns diese Veränderungen über die zurückliegenden 100 Jahre anschauen, erkennen wir, was der Mensch durch die Intensivierung der Landnutzung in der Natur anrichtet. Wir können die Prozesse nachvollziehen, die zu den Veränderungen in der Biodiversität führen, welche Arten bestimmten Veränderungen gegenüber resilient sind und welchen Arten das weniger gelingt. Kennzahlen wie die Stickstoffkonzentration im Blatt sind hier aufschlussreich, weil sie uns viele Informationen über die Anpassungsfähigkeit der Pflanzen verraten. Über die Veränderung der Arten erhalten wir Hinweise für das Management von Ökosystemen und können relevante Aspekte unserer Forschung damit auch in die Gesellschaft tragen.
Wie zeigt sich bei Ihrer Arbeit über Jahrzehnte hinweg der Klimawandel?
Wir können durch die Herbarbelege beispielsweise sehr gut zeigen, dass sich die Dichte der Stomata – also die Spaltöffnungen in der Epidermis, durch die Pflanzen Gasaustausch betreiben – in Reaktion auf den Klimawandel verändert haben und weiter verändern oder sich Blühzeiten verschoben haben. Aus solchen Beobachtungen lassen sich Prognosen treffen, wie sich Pflanzen weiterhin anpassen und was das für ihre Funktion im Ökosystem bedeutet.
Die Zugehörigkeit zur Senckenberg-Gesellschaft bietet Ihnen ein neues Netzwerk – in welcher Form profitieren Sie von den neuen Kontakten zu den anderen Institutionen?
Auf der einen Seite eröffnet uns die Nähe zu den Forscherinnen und Forschern innerhalb der Senckenberg Gesellschaft neue Expertisen und Perspektiven und Möglichkeit der Zusammenarbeit – wie beispielsweise bei der Erfassung, Digitalisierung und Bereitstellung von Typusbelegen von Moosen und Flechten. Zum anderen stehen uns technische Mittel jetzt unkomplizierter zur Verfügung, etwa spezielle Laboratorien. Außerdem ist für uns das neue Institut eine Chance, unsere Forschungsarbeiten und -ergebnisse stärker in die Öffentlichkeit zu tragen. So will die Senckenberg Gesellschaft beispielsweise sogenannte Solution Labs etablieren.
In diesem Rahmen wollen Expertinnen und Experten sowie Bürgerinnen und Bürger – etwa durch Citizen-Science-Projekte – Lösungen für Probleme, die unsere Forschungsfelder berühren, erarbeiten und in die Gesellschaft überführen.