Die Mikrobiologin Kirsten Küsel, Professorin für Aquatische Geomikrobiologie, spricht bei einer Veranstaltung.

Der Hauptstörfaktor ist der Mensch

Interview mit der Sprecherin des Exzellenzclusters »Balance of the Microverse«, Prof. Dr. Kirsten Küsel
Die Mikrobiologin Kirsten Küsel, Professorin für Aquatische Geomikrobiologie, spricht bei einer Veranstaltung.
Foto: Svea Pietschmann

Die größten Herausforderungen unserer Zeit hängen von den kleinsten Organismen ab: So sind ein stabiles Klima oder wirksame Strategien gegen Infektionskrankheiten nur mit intakten mikrobiellen Gemeinschaften zu haben. Wie diese komplexen Systeme funktionieren, wie resistent sie gegenüber Störungen sind und wie sie wieder ins Gleichgewicht gebracht werden können, daran forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Exzellenzcluster »Balance of the Microverse«. Über den Forschungsstand berichtet die Sprecherin des Clusters, Prof. Dr. Kirsten Küsel, im Interview.

Interview: Ute Schönfelder


Der Jenaer Exzellenzcluster »Balance of the Microverse« vereint mittlerweile fast 70 Forschungsgruppen aus neun Forschungseinrichtungen. Warum sind Mikroorganismen von solch großem Interesse für die Forchung?

Mikroorganismen sind nicht nur für die Forschung von Interesse, sondern für uns alle. Für das gesamte Leben auf der Erde. Mikrobielles Leben ist vor etwa vier Milliarden Jahren auf der Erde entstanden. Mikroorganismen haben durch vielfältige Prozesse die geochemischen und geologischen Eigenschaften der Erde maßgeblich geprägt und somit die Entwicklung des heutigen Lebens ermöglicht.

Pflanzen, Tiere und nicht zuletzt wir Menschen haben sich in Ko-Evolution mit den Mikroorganismen entwickelt, was zu komplexen, gegenseitig abhängigen Beziehungen führte. Unsere Gesundheit und unser Wohlergehen hängen daher eng von fein ausbalancierten Interaktionen mit diesen Mikrobengemeinschaften ab. Problematisch wird es, wenn das Gleichgewicht der lebenswichtigen Mikrobiome gestört wird. Solche Störungen können durch natürliche Umweltveränderungen entstehen. Der Hauptstörfaktor ist allerdings der Mensch.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Betrachten wir den menschlichen Darm: Er zählt zu den am dichtesten besiedelten Ökosystemen überhaupt. Im Dickdarm finden sich bis zu einer Billion Bakterien pro Gramm Darminhalt. Dieses Darmmikrobiom wird als eigenständiges Organ betrachtet und kann ein bis zu zwei Kilogramm wiegen. Seine Bedeutung reicht weit über die Verdauung hinaus. Doch wenn wir uns falsch ernähren, etwa durch stark verarbeitetes Fast
Food, oder Breitbandantibiotika einnehmen, dann greifen wir in dieses Mikrobiom ein. Wir stören das Gleichgewicht. Dies kann zur Abnahme nützlicher Bakterien führen und pathogenen Bakterien oder Pilzen ermöglichen, sich auszubreiten.

Solche Dysbiosen stehen im Zusammenhang mit verschiedenen Erkrankungen. Das kann lebensbedrohliche Ausmaße annehmen: Während wir hier sitzen und uns eine Stunde unterhalten, sterben weltweit etwa 1 250 Menschen an einer Sepsis, die oft mit einer Dysbalance des Mikrobioms in Verbindung steht.

Sollten wir dann auf Antibiotika zur Behandlung von Infektionskrankheiten besser verzichten?

Nein, das sicher nicht. Allerdings führt ihr unsachgemäßer Einsatz zur Entwicklung von Resistenzen, wodurch ihre Wirksamkeit abnimmt. Empfindliche Bakterien werden abgetötet, während resistente überleben und sich weiter vermehren. Wir haben eine Antibiotika-Krise! Daher ist ein Umdenken erforderlich. Statt ausschließlich auf die Eliminierung einzelner Bakterienspezies zu setzen, sollten wir verstärkt darauf achten, das Gleichgewicht des Mikrobioms zu fördern oder, wenn es gestört ist, wiederherzustellen.

Wie lässt sich die Balance in einem mikrobiellen Ökosystem denn wiederherstellen?

Um das Gleichgewicht mikrobieller Ökosysteme wiederherzustellen, ist ein tiefgreifendes Verständnis der zugrundeliegenden Zusammenhänge und Steuerungsfaktoren erforderlich. Und genau daran haben wir in der ersten Förderperiode unseres Exzellenzclusters »Balance of the Microverse« gearbeitet. So konnten wir chemische Mediatoren identifizieren und ihre Rollen und Veränderungen analysieren. Wir haben innovative Methoden entwickelt, um mikrobielle Interaktionen sowohl räumlich als auch zeitlich präzise zu untersuchen. Dabei zeigt sich, dass es grundlegende Prinzipien gibt, die das mikrobielle Gleichgewicht in verschiedenen
Systemen bestimmen, egal, ob es sich nun um ein Gewässer, den Boden oder den menschlichen Darm handelt.

Aber ein Gewässer ist doch etwas grundlegend anderes als der menschliche Darm. Welche Parallelen lassen sich zwischen diesen unterschiedlichen »Biotopen« ziehen?

Viele Zusammenhänge, die wir schon lange aus der Ökologie kennen, lassen sich auch auf das »Ökosystem Mensch« anwenden. Schauen wir uns zum Beispiel einen Badesee an. Im Wasser leben vielfältige Mikrobengemeinschaften, darunter Mikroalgen, die entscheidend zum Gleichgewicht des Sees beitragen, da sie große Mengen CO2 fixieren und Sauerstoff produzieren. Gelangen jedoch zu viel Stickstoff und Phosphor in den See, etwa durch Überdüngung, kann es zu einem explosionsartigen Wachstum der Mikroalgen kommen – eine sogenannte Algenblüte. Das Ökosystem »kippt« in einen anderen Zustand. Die Algen können Toxine
produzieren, was zu Fischsterben und potenziellen Gesundheitsgefahren für den Menschen führt.

Ein solches »Umkippen« ist in der Ökologie ein lang bekanntes Phänomen. Ähnliche Prozessesehen wir eben auch im menschlichen Darm: Eine Dysbalance des Mikrobioms kann das Wachstum ungünstiger oder gar gefährlicher Arten, wie Clostridium difficile, fördern. Diese können das gesunde Darmmikrobiom überwachsen und schwere gesundheitliche Probleme verursachen. Sowohl im See als auch im Darm führt ein gestörtes Gleichgewicht zu einer Dominanz unerwünschter Arten, die das gesamte System destabilisieren.

Führt eine Störung des Gleichgewichts automatisch dazu, dass das mikrobielle Ökosystem kippt?

Nein. Nicht jede Störung führt zwangsläufig zum Kippen des Systems. Die Reaktion eines Systems auf Störungen hängt von deren Art und Intensität ab. Einige Systeme können sich nach einer Störung selbst stabilisieren und regenerieren, während andere anfälliger sind und leichter kippen. Das ist es, was wir in unserem Cluster in den kommenden Jahren untersuchen wollen: Wie resistent reagieren unterschiedliche Systeme auf Störungen und wie hängt das mit den Interaktionen der Mikroorganismen zusammen.

Dazu betrachten wir die Interaktionen als Netzwerke, die mathematisch beschrieben werden können, um Vorhersagen zu treffen: Wie vulnerabel ist ein bestimmtes System, wie viel kann es aushalten, gibt es Anzeichen für Kipppunkte, und wie resilient ist es. Generell gilt: Systeme mit hoher Diversität sind stabiler. Eine vielfältige mikrobielle Gemeinschaft kann besser auf Veränderungen reagieren und Störungen absorbieren, wodurch die Resilienz des gesamten Ökosystems erhöht wird.

Wie gehen Sie bei Ihrer Forschungsarbeit im Exzellenzcluster vor?

Ausgehend von unseren bisherigen Erkenntnissen, dass chemische und biologische Interaktionen die Struktur und Übergänge zwischen Zuständen des Mikrobioms steuern, werden wir verschiedene Modellsysteme über unterschiedliche Zeitskalen hinweg untersuchen, von der molekularen Ebene bis zum globalen Mikroversum. Das heißt, wir schauen uns sowohl Vorgänge an, die sich in Sekundenbruchteilen abspielen, wie etwa die Bindung von chemischen Mediatoren an Rezeptormoleküle, als auch die Rolle von chemischen Mediatoren, die vor Jahrtausenden in der menschlichen Mundhöhle von Mikroorganismen gebildet wurden.

Neben dem »Ökosystem Mensch«, welche anderen Systeme erforschen Sie im Cluster und wie unterscheiden sich diese?

Wir versuchen, die gesamte Vielfalt der Mikroorganismen auf der Erde abzubilden, indem wir uns verschiedene Modellsysteme aus den drei großen Bereichen anschauen, in die sie sich gruppieren: Erstens die Süßwassersysteme und der Boden, zweitens die Ozeane und drittens Mikrobiome, die mit höheren Organismen assoziiert sind. Das sind drei extrem unterschiedliche Lebensräume.

Im Grundwasser finden wir erheblich weniger Mikroorganismen pro Volumen als im menschlichen Darm, was weniger Möglichkeiten für Interaktionen bietet. Zudem ist die Energiezufuhr im Grundwasser stark begrenzt. Es gibt keine tägliche Nahrungsaufnahme und auch kein Sonnenlicht als Energiequelle. Entsprechend unterschiedlich sind die Mikroben, die man dort findet.

Mikroorganismen im Grundwasser sind oft mit einem viel kleineren Genom ausgestattet. Ein kleineres Genom spart Energie. Wenn sich eine Zelle teilt, muss ja das gesamte Genom dupliziert werden. Im Darm gibt es so viel Energie, dass Mikroben auch mit großen Genomen schnell wachsen und sich vermehren können. Mikroorganismen im Grundwasser befinden sich eher im Energiesparmodus, sie leben auf »Sparflamme«. Sie produzieren nicht alles selbst, was sie zum Überleben brauchen, sondern kooperieren untereinander und recyceln ganze Zellbruchstücke aus ihrer Umgebung, um Energie und Ressourcen zu sparen.

Wie lassen sich die Erkenntnisse, die Sie im Exzellenzcluster gewinnen, praktisch anwenden – zum Beispiel in der Medizin?

Der Ansatz unseres Clusters ist es, eine Brücke zwischen ökologischen Konzepten und medizinischer Anwendung zu schlagen. Wie bereits gesagt, finden wir in allen mikrobiellen Lebensgemeinschaften ähnliche Prinzipien, die die Dynamik und das Gleichgewicht steuern. Dieses Wissen lässt sich auf das menschliche Mikrobiom übertragen, insbesondere im Hinblick auf personalisierte Therapien.

Das Darmmikrobiom variiert von Mensch zu Mensch und wird von Faktoren wie Ernährung, Lebensstil und Alter beeinflusst. Das bedeutet, dass wir, wenn wir einen Patienten oder eine Patientin mit einer Infektionskrankheit therapieren wollen, nicht nur herausfinden müssen, welcher Erreger genau vorliegt. Wir müssen uns auch anschauen, wie das persönliche Mikrobiom aussieht, um genau die individuell passende Behandlung zu finden.

Neben der Anwendung in der Medizin und anderen wissenschaftsnahen Bereichen wollen Sie mit Ihren Forschungsergebnissen auch die Öffentlichkeit erreichen. Welche Wege gehen Sie dabei?

Ganz unterschiedliche. Wir setzen gezielt auf Öffentlichkeitsarbeit in Jena und weit darüber hinaus. Ein zentraler Baustein ist unser preisgekrönter Film »Into the Microverse«. Während der Langen Nacht der Wissenschaften haben wir ihn wieder im voll besetzten Planetarium in Jena gezeigt und mit anschaulichen Experimenten kombiniert, die das Publikum begeisterten. Der Film bringt die faszinierende Welt der Mikroorganismen einem breiten Publikum näher und wird inzwischen in Planetarien weltweit vorgeführt.

Darüber hinaus entwickeln wir Materialien für den Schulunterricht, um bereits bei jungen Menschen das Bewusstsein für die Bedeutung eines funktionierenden Mikrokosmos zu wecken, der unser Leben und unsere Umwelt entscheidend prägt. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Erhalt einzigartiger mikrobieller Modellsysteme.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist unser aktuelles Projekt zur traditionellen Joghurtherstellung in der Mongolei. Diese Joghurtkulturen haben auf beeindruckende Weise seit 5 000 Jahren ihre Stabilität bewahrt, während moderne Joghurtkulturen bereits nach wenigen Generationszyklen absterben. Dieses System veranschaulicht eindrucksvoll, welchen praktischen Nutzen eine stabile mikrobielle Gemeinschaft haben kann. Leider ist diese traditionelle Herstellung in Gefahr. Deshalb möchten wir nicht nur das Verständnis für solche Systeme fördern, sondern auch die Öffentlichkeit für deren Bedeutung sensibilisieren und so zur nachhaltigen Entwicklung beitragen.

Kontakt:

Kirsten Küsel, Univ.-Prof. Dr.
Leiterin der AG Aquatische Geomikrobiologie
vCard
Professur Aquatische Geomikrobiologie
Raum 312
Dornburger Straße 159
07743 Jena Google Maps – LageplanExterner Link