
Der brutale Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der sich anschließende Krieg im Gaza-Gebiet schlägt sich auch in der internationalen Wissenschaft nieder. Israelische Forschende wurden von Tagungen ausgeschlossen, an einigen europäischen Universitäten wurden Forderungen laut, Partnerschaften mit israelischen Universitäten zu beenden. Wie sich der Konflikt auf den Alltag an der Technischen Universität – dem »Technion« – in Haifa auswirkt und welche Rolle Universitäten als Orte des Diskurses und der Meinungsfreiheit spielen, darüber diskutierten am 7. Januar 2025 die Präsidenten des Technion, Uri Sivan, und der Universität Jena, Andreas Marx. Beide Universitäten sind seit 2020 über einen Kooperationsvertrag miteinander verbunden.
Interview: Ute Schönfelder
Herr Prof. Sivan, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum. Im Dezember 1924, vor 100 Jahren, hat das Technion seinen Betrieb aufgenommen. Ist das ein Grund zum Feiern?
Sivan: Wir hatten vor, das zu feiern. Aber angesichts der Umstände in Israel haben wir beschlossen, die Feierlichkeiten auf 2025 zu verschieben. Dennoch haben wir des 100. Jahrestags gedacht, denn das ist natürlich ein Meilenstein für uns. Das Technion, die älteste Universität des Landes, wurde 1924 eröffnet, ein Vierteljahrhundert vor der Gründung des Staates Israel. Wir haben mit 17 Studenten und einem Gebäude angefangen und sind in nur 100 Jahren zu einer vollwertigen, weltweit führenden Universität herangewachsen. Heute haben wir etwa 15 000 Studierende, 100 000 Alumni und mehrere Campus, einschließlich zwei internationale in New York und Guandong in China.
Das Technion hat für viele bedeutende technologische Entwicklungen den Weg bereitet. Können Sie uns ein paar Beispiele nennen?
Sivan: Von all den technologischen Entwicklungen ist die Tröpfchenbewässerung diejenige, auf die ich am stolzesten bin. Das scheint auf den ersten Blick etwas sehr Simples zu sein, ein einfacher Plastikschlauch mit Poren, die nicht verstopfen. Aber diese Erfindung ernährt 1,5 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt, was unglaublich ist. Sie erleichtert die Landwirtschaft in Trockengebieten und spart enorme Mengen an Wasser.
Es gibt natürlich viele weitere, anspruchsvollere technische Innovationen. Zum Beispiel basiert die Tatsache, dass wir heute online kommunizieren können, auf Algorithmen zur Datenkompression. Sie gehen auf den Datenkomprimierungsalgorithmus zurück, der von zwei Wissenschaftlern des Technion, Jacob Ziv und Abraham Lempel, entwickelt wurde. Ein anderes Beispiel ist die Entdeckung, wie Zellen mit Hilfe eines Moleküls namens Ubiquitin unerwünschte Proteine für den Abbau markieren. Diese Entdeckung brachte Aaron Ciechanover und Avram Hershko den Nobelpreis und der Menschheit eine neue Klasse von Krebsmedikamenten.
Ein anderes Beispiel ist »Azilect«. Dieses weit verbreitete Medikament wurde von Moussa Youdim und John Finberg zur Behandlung der Parkinson-Krankheit entwickelt. Ihre Forschung hat dazu beigetragen, das Leben vieler Menschen zu verbessern.
Wie konnte das Technion all das in nur 100 Jahren erreichen?
Sivan: Einer der Hauptgründe, warum wir in nur 100 Jahren so erfolgreich waren, ist die Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus anderen europäischen Ländern, zum Beispiel aus Ungarn, Polen, Russland und Deutschland, die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg fliehen mussten. Viele von ihnen landeten in den Vereinigten Staaten, aber nicht wenige kamen in diesen Teil der Welt, der später Israel wurde und bildeten den Grundstein für unsere Wissenschaft.
Das Technion wurde um 1911 von deutschen Juden aus Berlin gegründet. Auch der Architekt unseres ersten Gebäudes, Alexander Baerwald, stammte aus Berlin. Genau wie Albert Einstein, der dem Technion sehr verbunden war. Einstein besuchte das Technion 1923, nur ein Jahr bevor wir unsere Türen für Studierende öffneten. Zurück in Berlin gründete Einstein in seinem Haus die erste Gesellschaft der Freunde des Technion. Es ist schon interessant, dass das Technion so eng mit der deutschen Wissenschaft und Kultur verbunden ist. Es gab sogar eine heftige Debatte darüber, ob die Unterrichtssprache Deutsch oder Hebräisch sein sollte.
Herr Prof. Marx, Sie sind seit einem halben Jahr Präsident der Universität Jena. Welche Verbindung haben Sie zu Israel und speziell zum Technion?
Marx: Israel ist für mich ein Land, das Wissenschaft und Innovation auf höchstem Niveau repräsentiert und das Technion steht exemplarisch für diese Exzellenz. Ich hatte das Privileg, mich während meines Sabbaticals im März 2024 am Technion in Haifa mit großartigen Kolleginnen und Kollegen auszutauschen – eine Erfahrung, die mich nachhaltig beeindruckt hat. Aufgrund der schon damals angespannten Lage war ich einer der wenigen internationalen Gäste, und die Dankbarkeit, die mir in dieser Zeit entgegengebracht wurde, hat mich tief bewegt.
Israel ist für mich nicht nur ein Ort exzellenter Wissenschaft, sondern auch ein Land, in dem Vielfalt und Toleranz eindrucksvoll gelebt werden. Meine Verbindungen zum Technion und den israelischen Universitäten sind geprägt von Respekt, Bewunderung und der klaren Überzeugung: Die Zusammenarbeit mit Israel ist für die Wissenschaft und unsere Gesellschaft unverzichtbar.
Die Situation in Israel und der gesamten Nahost-Region hat sich in den zurückliegenden anderthalb Jahren drastisch verändert, seit die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel brutal überfallen hat. Wie sind das Technion und seine Angehörigen betroffen?
Sivan: Der brutale Überfall hatte enorme Auswirkungen auf das Land und auf das Technion. Fast 100 Studierende, Lehrende und Mitarbeitende haben Familienangehörige verloren. Einige wurden am 7. Oktober 2023 ermordet. Einige sind im Kampf gefallen. Zwölf unserer Familienmitglieder wurden nach Gaza verschleppt. Einige wurden freigelassen, andere wurden in den Tunneln von Gaza ermordet. Und eine Person wird dort immer noch festgehalten. Etwa 3 500 unserer Studierenden, Lehrenden und Verwaltungsmitarbeitenden wurden zum aktiven Dienst einberufen. Die Auswirkungen an unserer Universität waren also tiefgreifend.
Prof. Marx, Sie waren zu diesem Zeitpunkt (7. Oktober 2023) noch als Wissenschaftler an der Uni Konstanz. Wie haben Sie die Ereignisse dort erlebt und wie nehmen Sie die Situation heute als Uni-Präsident und im Verbund mit anderen deutschen Hochschulen wahr?
Marx: Die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 haben mich tief erschüttert. Der brutale Terroranschlag bildet eine Zäsur, die nicht nur Israel, sondern die ganze Welt betrifft. Diese Art von Anschlag an einem Tag, der so viele Menschen tötete, war wirklich schockierend. Ich habe mir Sorgen um meine Kolleginnen und Kollegen gemacht, um meine Freunde aus der arabischen Gemeinschaft. Und ich stand in engem Kontakt zu Freunden aus Tel Aviv. Alle waren berührt, alle waren schockiert. Aber jetzt sind die Menschen in Israel irgendwie vorangekommen. Es ist gut zu sehen, dass sie ihre Aufgeschlossenheit nicht aufgeben und zwischen dem, was die Hamas getan hat, und dem, was die arabische Gemeinschaft in Israel ausmacht, differenzieren können.
Heute, als Präsident der Universität Jena, sehe ich es als meine Verantwortung, die Solidarität mit Israel klar zu artikulieren und für eine offene, sachliche Diskussion einzutreten. Gemeinsam mit anderen deutschen Hochschulen setzen wir ein starkes Zeichen gegen Antisemitismus und für den Schutz der Meinungsfreiheit – dabei darf jedoch kein Raum für Hass oder Gewalt sein. Unsere Beziehungen zu israelischen Wissenschaftseinrichtungen bleiben davon unberührt, ja, sie sind in schwierigen Zeiten wichtiger denn je.
Wie nehmen Sie die Unterstützung und die Haltung der deutschen Hochschulen zur Situation in Israel wahr?
Sivan: Ich kann gar nicht sagen, wie gerührt wir sind. Wir empfinden eine tiefe Dankbarkeit gegenüber unseren deutschen Kolleginnen und Kollegen. In der Wissenschaft geht es um liberale Werte, um Inklusivität, um Gleichberechtigung, um Rede- und Meinungsfreiheit, um die Suche nach Wahrheit. Das sind die Werte, die uns verbinden. Ich habe meine Präsidentschaft vor fünf Jahren angetreten, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie. Wenn es eine Lektion gibt, die ich in diesen Jahren gelernt habe, dann ist es diese: In Krisenzeiten kann man alle Protokolle, Verfahren und Regeln über Bord werfen! Man hat nur einen Kompass – Werte. Als die deutsche akademische Gemeinschaft uns die Hand reichte, wussten wir, dass sie das tat, weil wir diese Werte teilen, und das werden wir nie vergessen.
In immer mehr EU-Ländern wie Spanien, Italien, Belgien und anderen wächst jedoch der Druck auf die Universitäten, die Zusammenarbeit mit israelischen Forschungseinrichtungen und Forschenden wegen des Krieges einzustellen. Können Sie diese Forderungen nachvollziehen?
Marx: Nein, ich kann diese Forderungen nicht nachvollziehen. Wir haben gerade über die Werte gesprochen, die die Universitäten teilen. Wissenschaft lebt vom Dialog und der Zusammenarbeit, unabhängig von politischen Konflikten. Und wir sollten Menschen unterstützen, die diese Werte mit uns teilen. Wir sollten Brücken bauen, um Probleme zu lösen und nicht die Zäune höher oder die Gräben tiefer machen. Der Boykott israelischer Forschungseinrichtungen widerspricht den Grundprinzipien der Wissenschaft: Offenheit, Universalität und das Streben nach Wahrheit.
Die Hochschulrektorenkonferenz hat eine klare Position bezogen: Wissenschaftliche Zusammenarbeit darf nicht zum Spielball politischer Auseinandersetzungen werden. Für die Universität Jena ist die Zusammenarbeit mit israelischen Partnern unverrückbar. Diese Beziehungen stärken nicht nur die Forschung, sondern sind auch ein starkes Zeichen gegen Ausgrenzung und Antisemitismus.
Was bedeuten der Boykott und der Ausschluss israelischer Forschender von internationalen Konferenzen für die Universitäten in Israel?
Sivan: Akademischer Boykott ist ein Widerspruch in sich, denn in der Wissenschaft geht es um Kooperation, Kommunikation und Argumentation. Manchmal streiten wir auch heftig, aber es geht dabei immer um den Austausch von Ideen und das Stellen schwieriger Fragen. Ein Boykott unserer Universitäten ist ein Boykott der akademischen Welt selbst und ein Boykott der Werte, die unsere Kolleginnen und Kollegen eigentlich vertreten sollten. Der Boykott hat nur geringe Auswirkungen auf die boykottierte Seite, aber einen hohen Preis für die boykottierende Seite, da sie die Prinzipien aufgibt, die sie eigentlich verteidigen sollte.
Außerdem stellen sich diejenigen, die boykottieren, gewollt oder ungewollt, auf die Seite von schrecklichen Terrororganisationen und Ländern wie dem Iran. Bis heute gibt es keine einzige Universität in den Vereinigten Staaten, die ihre Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten eingestellt hat, und nur wenige in Europa. Der Umgang mit dem »stillen« Boykott ist schwieriger, denn wenn es ein Forscher ablehnt, eine Arbeit zu begutachten und sagt, er habe keine Zeit, dann weiß man nicht, ob das der tatsächliche Grund ist.
An vielen Universitäten, auch in Deutschland, wächst der Druck von propalästinensischen Gruppen. Es gibt Proteste, Besetzungen und sogar Gewalt gegen Personen und Institutionen. Wie beurteilen Sie dies? Welche Rolle sollten Universitäten spielen? Wo sind die Grenzen der Meinungsfreiheit?
Marx: Ja, es gibt so etwas auf vielen Campus in Deutschland. Und diese Bewegungen werden durch unsere Verfassung gestützt. Unsere Verfassung schützt die Meinungsfreiheit und die Demonstrationsfreiheit. Aber trotzdem sollte das nicht die Art und Weise sein, wie wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Konflikte artikulieren. Universitäten sind Orte der Freiheit und des Diskurses. Ihre Aufgabe ist es, Raum für den Austausch unterschiedlicher Meinungen zu schaffen – jedoch, ohne die Grenzen der Meinungsfreiheit zu überschreiten, die dort liegen, wo Hass, Hetze oder Gewalt beginnen.
Der wachsende Druck durch Proteste und Besetzungen zeigt, wie wichtig es ist, klare Positionen zu beziehen: für Frieden, Toleranz und gegenseitigen Respekt. Gleichzeitig müssen die Hochschulen ihrer Verantwortung gerecht werden, Antisemitismus in all seinen Formen entschieden entgegenzutreten. Unser Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein hohes Gut, aber es darf nicht als Deckmantel für Extremismus missbraucht werden.
Sivan: Auch wir bekommen mit, was an einigen Universitäten im Ausland passiert. Ich denke, dass viele der Demonstrationen und Boykotte auf Unwissenheit beruhen. Wenn die Leute sagen, »from the river to the sea«, haben sie oft gar keine Ahnung, von welchem Fluss und welchem Meer sie sprechen und was die Folgen ihrer Forderung wären – die Eliminierung Israels. Aber mehr noch, sie missachten die Werte, die der akademischen Welt zugrunde liegen.
Gibt es seit dem Hamas-Überfall und dem folgenden Krieg in Ihrem Land auch Erfahrungen, Erlebnisse, die Ihnen Hoffnung machen?
Sivan: Ja, ein Lichtblick in all dieser Dunkelheit ist unsere Gemeinschaft. Bereits am 7. Oktober 2023 hat sich unser Campus in ein Drehkreuz verwandelt. Wir haben von hier aus tonnenweise Lebensmittel und medizinische Hilfsgüter, die wir mit Hilfe unserer Unterstützer gekauft hatten, auf den Weg gebracht, zunächst an unsere Reservisten, aber auch an andere Gemeinden, die Hilfe brauchten. In den folgenden Monaten nahmen wir Hunderte von evakuierten und vertriebenen Familien in unseren Wohnheimen auf. Wir luden sie auf unseren Campus ein und versorgten sie mit allem, was sie brauchten, von der Zahnbürste bis zum Computer; sie hatten nur die Kleidung, die sie trugen. Die Art und Weise, wie die Menschen zusammenkamen, war wirklich inspirierend. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie stolz wir auf unsere Gemeinschaft sind.
Ein weiteres Thema, mit dem wir uns beschäftigen mussten, war, zu versuchen, die Spannungen zwischen arabischen Studierenden, die 25 Prozent unserer Studierendenschaft ausmachen, und den jüdischen Studierenden zu entschärfen. Sie können sich den ersten Vorlesungstag vorstellen, an dem Tausende von Reservistinnen und Reservisten, darunter fast 90 Personen, deren Familienangehörige am 7. Oktober ermordet wurden oder im Kampf gefallen sind, auf Tausende von arabischen Studierenden trafen, die auf den Campus zurückkehrten. Wir haben monatelang mit jeder Gruppe einzeln und mit den Gruppen gemeinsam gearbeitet, um die Spannungen zu entschärfen, und ich bin sehr stolz darauf, dass ein Jahr vergangen ist, in dem wir absolut keinen Zwischenfall auf dem Campus hatten.
Welche Erwartungen und Hoffnungen haben Sie für das Jahr 2025 in Bezug auf die Situation in Israel?
Sivan: In erster Linie hoffe ich auf die Rückkehr aller Geiseln. Leider wissen wir, dass viele von ihnen ermordet worden sind. Darüber hinaus hoffe ich auf Frieden. Ich glaube, dass auch die große Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung einfach nur in Frieden und Wohlstand leben und ihre Kinder und Enkelkinder großziehen möchte, und das wollen wir auch.
Marx: Für Israel wünsche ich mir vor allem Frieden und Stabilität – Bedingungen, die auch für die wissenschaftliche Zusammenarbeit essenziell sind. Mit Blick auf die Weltlage hoffe ich, dass internationale Verantwortungsträger ihrer Rolle bei der Gestaltung einer friedlicheren Zukunft gerecht werden. Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat dabei eine besondere Aufgabe: durch Zusammenarbeit Brücken zu bauen und Lösungen für globale Herausforderungen zu entwickeln. Für die Universität Jena ist klar: Unsere Solidarität mit Israel ist unerschütterlich, und wir werden auch in Zukunft unsere wissenschaftlichen Beziehungen zu israelischen Partnern stärken. In Zeiten der Unsicherheit ist es wichtiger denn je, als akademische Gemeinschaft zusammenzustehen.