Erkundungsbohrungen in Thüringen und Südafrika öffnen Fenster in die Vorgeschichte des Planeten. Die so erhaltenen Bohrkerne gleichen Zeitkapseln, in denen Informationen aus der Frühzeit der Erde gespeichert sind. Teams aus Geologie und Paläontologie schauen derzeit in unterschiedliche Epochen der Erdgeschichte zurück: als Thüringen noch Teil des Urkontinents Pangäa war und sogar in die Zeit, in der das Leben gerade erst entstand. Die Reportage begleitet sie ein Stück bei ihrer Arbeit.
Text: Stephan Laudien
Sie muss wohl recht still gewesen sein, die Welt vor 3,2 Milliarden Jahren. Kein Vogelgezwitscher, kein Wolfsgeheul, kein Grillenzirpen. Einzig Wellenschlag, pladdernde Regentropfen, Wind, Sturm und Gewitterdonner unterbrachen die Stille. Wer hätte Geräusche machen sollen, zu einer Zeit, da das einzige Leben aus sogenannten Mikrobenmatten bestand, die die Ufer von Gewässern säumten. Sie produzierten wahrscheinlich Sauerstoff und schufen so die Voraussetzungen für höherentwickeltes Leben.
Nun hat ein internationales Geologenteam unter Leitung von Prof. Dr. Christoph Heubeck von der Universität Jena exzellent erhaltene Reste dieser Mikrobenmatten zutage gefördert. Sie sind in Bohrkernen enthalten, die gut 3,2 Milliarden Jahre alt sind. Gefördert wurden sie im »Barberton-Grünsteingürtel« in Südafrika, nah an der Grenze zu Eswatini, dem früheren Swasiland. »Diese Bohrkerne sind gewissermaßen Zeitkapseln, in denen Informationen aus der Frühzeit der Erde gespeichert sind«, sagt Christoph Heubeck.
Bibliotheken aus der Frühzeit des Planeten
Neben den Spuren einfacher Lebensformen enthalten die Bohrkerne zahlreiche weitere Informationen. So können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Rückschlüsse auf die Mondumlaufbahn ziehen, Tiden, Vulkanismus, die UV-Strahlung, die Intensität der Verwitterung, Meteoriteneinschläge und die Temperatur der Ozeane und der Atmosphäre analysieren. Die dekorativ gemusterten Steinzylinder sind wahre Bibliotheken aus der Frühzeit unseres Planeten.
»Schlachtfest« auf dem Institutshof
Ein sonniger Tag im Herbst. Auf dem Gelände des Instituts für Geowissenschaften am Burgweg herrscht emsiges Treiben. Es ist »Schlachtfest«! Doch kein Schwein musste hier sein Leben lassen, vielmehr arbeitet sich eine Kreissäge Zentimeter für Zentimeter durch steinerne Bohrkerne, konzentriert bedient von Frank Linde. Neben Schutzbrille und Handschuhen gehören Gummistiefel zur Ausrüstung des Technikers.
Die Säge Marke »Steinadler« arbeitet mit Kühlwasser und hinterlässt einen rötlichen Schlammstrahl. Präzise werden die steinernen Stangen der Länge nach aufgeschnitten, ihr rötlich schimmern des marmoriertes Inneres wird sichtbar. Diese Bohrkerne haben jedoch nicht den weiten Weg aus Südafrika zurückgelegt. Sie wurden nahe des Bromackers aus dem Gestein gezogen, einer Fundstelle im Thüringer Wald. Ihr Alter liegt bei etwa 290 Millionen Jahren; sie stammen aus der Zeit des frühen Perm.
Es ist das zweite große Bohrungs-Projekt, an dem Christoph Heubeck beteiligt ist. Nur zufällig wurden beide Projekte im vergangenen Jahr fast zeitgleich realisiert. Erdgeschichtlich markieren die Funde nahe der Ortschaft Tambach-Dietharz einen gewaltigen Zeitsprung im Vergleich zu den Funden aus dem südlichen Afrika. Noch haben die Dinosaurier ihre Herrschaft nicht angetreten, aber ihre Vorfahren hinterlassen bereits zahlreiche Spuren. Es sind Ursaurier, Kreaturen an der Schwelle vom Amphibium zum Reptil. Darunter Orobates pabsti und Seymouria sanjuanensis. Die letztere Art war zuvor erstmals in Utah in den USA gefunden worden. Benannt wurden die Tiere nach dem Fluss San Juan, einem Nebenfluss des Colorado. Die beiden Fundstellen sind kein Zufall: Zu Zeiten des Urkontinents Pangäa lagen beide Fundstellen entlang des Nordrandes des Variszischen Gebirges auf einem Kontinent.
Der Ursaurier Orobates pabsti hingegen wurde nach Wilhelm Pabst benannt. Der Kustos am Herzoglichen Museum Gotha gehörte zu den Ersten, die um 1900 sogenannte Fährtenplatten entdeckt und beschrieben hatten. Das sind Gesteinsplatten, auf denen sich Fußspuren der urtümlichen Tiere erhalten haben. Später kamen einzelne Knochen und sogar ganze Skelette zum Vorschein. Die wohl bekanntesten sind das »Tambacher Liebespaar«, zwei Ursaurier der Art Seymouria sanjuanensis, über Jahrmillionen nebeneinander im Stein verewigt. Erste Fossilien entdeckte der Geologe und Paläontologe Dr. Thomas Martens 1974 am Bromacker. Der Schüler von Arno Hermann Müller machte die Erforschung der Bromacker-Fossilien zu seinem Lebensthema. Martens erwarb das Areal sogar, um es für die Wissenschaft zu sichern.
Kaum ans Tageslicht befördert, werden die Bohrkerne vermessen und exakt beschriftet. Derart katalogisiert und anschließend sicher archiviert, stehen sie weiteren Untersuchungen zur Verfügung, auch späteren Generationen von Forschern. Das ist bei dem Bohrprojekt in Südafrika nicht anders als bei den Arbeiten in Thüringen. Bei den Bohrungen im Barberton-Grünsteingürtel fraß sich der diamantene Kernmeißel im Winkel von 45 Grad bis zu 300 Meter in die Tiefe, oft von älteren in jüngere Gesteinsschichten. »Pro Tag wurden etwa 20 bis 40 Meter Kerne gezogen«, sagt Christoph Heubeck. In Thüringen ging es Tag für Tag je acht Meter in die Tiefe, bis etwa 250 Meter erreicht waren.
Die Bohrung selbst sei im wesentlichen Routinearbeit gewesen. Als erfolgversprechendste Bohrstelle hatten die Geologen den Parkplatz eines Kurhotels ausgemacht. Da dieser Betrieb jedoch keine Winterruhe macht, musste eine andere Stelle gefunden werden. »Wir haben schließlich im Wald gebohrt, gleich neben einem Forstweg«, sagt Christoph Heubeck. Einziger Wermutstropfen für die beauftragte Firma: Bei einer Tiefe von 243 Metern brach die Bohrkrone ab und musste erneuert werden.
Bei beiden Projekten wird als prominentes Haupt-Untersuchungsgerät ein großes kernziehendes Bohrgerät benutzt. Vom Ansatz her sei das nichts anderes als eine Lupe oder ein Hammer, sagt Christoph Heubeck: »Es kommt weniger auf die Größe und Art des Hilfsgeräts an, sondern vielmehr auf eine kluge Auswahl der Forschungsfrage und der bestmöglichen Bearbeitungsstelle, auf eine effiziente Durchführung des Datenerwerbs, und auf die optimale Auswertung.«
Weil die Sedimentgesteine, die Informationen über die erdgeschichtliche Vergangenheit des Systems Erde geben, aber in der Regel von jüngeren Schichten, Verwitterungsböden und Vegetation bedeckt sind, ist für die »Befragung« von unverwittertem und kontinuierlichem Material durch Laborgeräte oft die Kernbohrung das Instrument der Wahl. Das sehen die Leute des International Continental Scientific Drilling Program, dem Hauptfinanzierer des Projekts, ganz genauso: Im Juli 2023 wird deswegen in Potsdam eine große Konferenz zur Zukunft wissenschaftlichen Bohrens ausgerichtet.
Erkenntnisse liefern die Bohrkerne schon während des Schlachtfestes. Bei einer ersten Inaugenscheinnahme zeigt Christoph Heubeck auf blaugraue Knollen im Bohrkern: »Das sind Karbonatknollen. Ihre Isotopie dient uns als Paläothermometer.« Heißt, die Forscher können anhand dieser Einschlüsse analysieren, welche Temperaturen herrschten, als sich das Mineral bildete. So lassen sich Aussagen über die klimatischen Verhältnisse der Vorzeit treffen und es werden Vergleiche mit heutigen Gegebenheiten möglich.
Fossilien in ehemaligem Steinbruch
Eine Wiese, lockerer Baumbestand, Wanderwege und Hinweistafeln: Er sieht recht unspektakulär aus, der Bromacker bei Tambach-Dietharz. Einst reihte sich hier ein Steinbruch an den anderen. Gefördert wurde sogenanntes Rotliegendes, ein roter Sandstein, der als Baumaterial diente und unter anderem für Torsteine, Zaunpfähle oder Verblendungen genutzt wurde. Einige der einstigen Steinbrüche sind noch gut erkennbar, Warntafeln verweisen auf Gefahrenstellen.
Dr. Anna Pint kennt das Areal bestens. Die Geologin und Paläontologin aus der Arbeitsgruppe um Prof. Heubeck gräbt seit 2020 am Bromacker. Sie ist Spezialistin für wirbellose Tiere und Grabgänge. »Wir haben Fossilien von Insekten gefunden, von Krebstierchen und ganz vereinzelt von Tausendfüßlern«, sagt Anna Pint.
Das aktuelle Projekt »Bromacker« ist eine Kooperation von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen vom Museum für Naturkunde Berlin, der Universität Jena und der Stiftung Schloss Friedenstein in Gotha. Gegraben wird jeweils im Sommer. Durchschnittlich 20 Personen sind dabei, darunter viele Studierende und Doktoranden. Werkzeuge sind Hammer und Meißel, größere Stücke müssen zerschlagen werden. Anna Pint entscheidet als Mitglied des Grabungsleiterteams, welche Funde erfolgversprechend sind, die übrigen verbleiben im Abraum. Die Analyse der Funde obliegt den jeweiligen Spezialisten. Werden Wirbeltierknochen gefunden, sind sie Sache von Tom Hübner, dem Kurator des Museums auf Schloss Friedenstein, sowie Jörg Fröbisch vom Museum für Naturkunde Berlin, der auch das Bromackerprojekt leitet.
Fußabdrücke der Ursaurier
Ein weiterer Experte ist Lorenzo Marchetti, ebenfalls vom Museum für Naturkunde Berlin; er ist für die im Gestein erhaltenen Fußabdrücke der Ursaurier zuständig. Solange die Fundstücke noch bergfeucht sind, können sie bearbeitet werden. So stellt beispielsweise Frank Linde in Jena Dünnschliff-Präparate der Grabgänge her. Hauchdünne Scheiben, die dann unter dem Mikroskop betrachtet werden können. Gegen das Licht gehalten, ist der Gang gut zu erkennen, den vor Millionen Jahren ein Insekt gegraben hat. Die weiteren Funde müssen behutsam getrocknet werden. Einmal getrocknet, dürfen sie nicht wieder feucht werden: »Der enthaltene Ton würde aufquellen und die Stücke zersprengen«, sagt Anna Pint.
Die Bohrungen in Südafrika finanzierte hauptsächlich das ICDP, das International Continental Scientific Drilling Program, ein Konsortium für wissenschaftliches Bohren, dem 21 Mitgliedsstaaten angehören. Insgesamt wurden 1,8 Millionen Euro für die Bohrkosten und ein Mehrfaches dieser Summe für die Untersuchungen und die Gehälter der beteiligten Doktoranden und Doktorandinnen sowie Postdocs eingeworben.
Beteiligt war sogar die US-amerikanische Raumfahrtagentur NASA. Ähnelte die Erdoberfläche vor 3,2 Milliarden Jahren doch der Oberfläche anderer Planeten. »Wie konnte sich Leben in dieser herausfordernden, hochenergetischen Umgebung halten und ausbreiten?«, fragt Christoph Heubeck. In den Bohrkernen lässt sich eine durchschnittliche Ablagerungsrate von etwa einem Meter pro tausend Jahre erkennen, vergleichbar mit Ablagerungsraten an heutigen Küsten, obwohl vielfach tägliche Tiden in dünnen Sedimentlagen aufgezeichnet sind.
Die wissenschaftliche Auswertung der Bohrkerne wird längst nicht so lange in Anspruch nehmen. Dennoch werde es einige Jahre dauern, bis diese Zeitkapseln aus der Frühzeit der Erde umfassend untersucht und analysiert worden sind, sagt Christoph Heubeck. Zunächst werden sie in Längsrichtung zersägt, fotografiert und beschrieben. Dann verbleibt eine Hälfte im nationalen Kernlager Südafrikas, faktisch in einer »Bibliothek des Untergrunds«, die andere Hälfte ist inzwischen per Schiff in Berlin-Spandau im dortigen Kernlager des ICDP-Konsortiums angekommen. Dort werden sie geröntgt, nochmals detailliert dokumentiert und während eines Beprobungs-Workshops an die beteiligten Forschungseinrichtungen verteilt.
Das Areal am Bromacker ähnelte einst den Landschaften der heutigen Mongolei, so ist es auf einer der Schautafeln zu lesen. Anna Pint sagt, es habe sich um ein Sedimentbecken gehandelt; der Sandstein entstand in Flüssen, die das Gebiet durchzogen. Nun sei es das Ziel, den Lebensraum jener fernen Vorzeit wissenschaftlich genau zu rekonstruieren. »Wir schauen durch ein Fenster in die Vergangenheit, erkunden einen Abschnitt der Erdgeschichte«, sagt Anna Pint. Wir, das ist das Team um Christoph Heubeck mit Thomas Voigt, Frank Linde, Peter Frenzel, Anna Pint sowie den Studierenden Jakob Stubenrauch, Rebecca Lellau und Fabio Berlin. Die Jenaer Gruppe ist die kleinste im Projekt »Bromacker«, das 2020 gestartet wurde und fünf Jahre laufen soll.
Funde gehören dem Freistaat Thüringen
Möglicherweise wird sich der Bromacker um den Status einer UNESCO-Weltnaturerbestätte bewerben. Das würde bedeuten, in die Liga der Grube Messel in Hessen oder der Lagerstätte Solnhofen im bayrischen Altmühltal aufzusteigen. Im Altmühltal wurden die berühmten Fossilien des Archäopteryx gefunden, des sogenannten Urvogels. Eine so klassifizierte Fundstelle würde umzäunt und gesichert, schon um Raubgräber abzuhalten. Schon jetzt gehören die Funde dem Freistaat Thüringen. Was nicht in der Sammlung des Museums auf Schloss Friedenstein in Gotha gezeigt wird, lagert im dortigen Depot.
Anna Pint verweist darauf, dass vornehmlich Fossilien von Pflanzenfressern gefunden wurden. Wovon sich diese Tiere ernährten, sei schwer zu sagen: Fossile Pflanzenreste sind rar unter den Funden, was jedoch auch an den ungünstigen Erhaltungsbedingungen für Pflanzenfossilien liegen kann.
Dennoch wollen die Forscherinnen und Forscher den Lebensraum dieser Tiere, ihre Nahrung und das Klima jener Zeit so detailliert wie möglich rekonstruieren. Das Fenster in die Vergangenheit soll weit aufgestoßen werden. So weit wie möglich.