Restauratorin Katharina Heiling bei ihrer Arbeit im  historischen Karzer der Jenaer Universität.

Fakten statt Legenden

Restauration des ehemaligen Studentengefägnisses der Universität Jena gibt den Blick auf geschichtliche Hintergründe frei
Restauratorin Katharina Heiling bei ihrer Arbeit im historischen Karzer der Jenaer Universität.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

200 Jahre nach seiner Ausmalung ist das ehemalige Studentengefängnis – der Karzer – der Universität Jena restauriert worden. Dabei stellte sich heraus, dass seine Geschichte neu erzählt werden muss.

Text: Axel Burchardt


Vor gut 200 Jahren, im Juli 1822, soll einer von damals neun Karzern der Universität Jena an nur einem Tag ausgemalt worden sein. Die oft erzählte Geschichte besagt, der Schweizer Student Martin Disteli habe damals als Gefangener mit Blut, Kot und anderen organischen Materialien zahlreiche Szenen und karikierte Personen an die Wände der etwa 15 Quadratmeter großen Zelle gemalt. So gut die Geschichte auch klingt, sie ist eine Legende, wie die Restaurierung dieser historischen Karzerzelle 200 Jahre später eindeutig belegt hat.

Thüringens einziger historischer Karzer

Das ehemalige Studentengefängnis, das 1738 errichtet und bis Mitte des 19. Jahrhunderts genutzt wurde, befindet sich in dem Gebäude, das an das alte Senatsgebäude der Universität grenzt und heute Teile des Instituts für Anatomie beherbergt. Das Fenster dieses Karzers erlaubt einen Blick auf den Kollegienhof. Lange Zeit wurde der Karzer nur zu besonderen Gelegenheiten geöffnet. Zu groß war die Angst, die Besucherinnen und Besucher könnten durch Schwitzen oder durch Berührungen der seltenen Bemalung schaden. »Denn es ist der einzige historische Karzer in Deutschland, der vollständig von nur einem Künstler ausgemalt wurde«, sagt Dr. Babett Forster, Leiterin der Kustodie der Universität.

Doch sie und ihre Mitarbeiterin Gina Grond wollten dieses historische Kleinod gerne der Öffentlichkeit stärker zugänglich machen. Grundlage dafür war eine Restaurierung mit entsprechender Sicherung der Bemalung. Als die Kustodie dafür Fördermittel vom Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, dem Verein für Jenaer Stadt- und Universitätsgeschichte sowie der Freundesgesellschaft der Universität eingeworben hatte, konnte die Restaurierung starten.

Beauftragt wurde die Restauratorin und Karzer-Spezialistin Katharina Heiling. Sie sandte noch vor Beginn der praktischen Arbeiten in Jena einige Materialproben aus dem Karzer an ein Speziallabor in Prag. Die Analyse belegte: Es wurde weder mit Blut noch mit Kot gemalt, sondern mit vor 200 Jahren gängigen Farben. Diese wurden vermutlich von Disteli selbst aus den natürlich vorkommenden Erdpigmenten gelber und brauner Ocker sowie den Bindemitteln Leinöl und Kalkkasein hergestellt – ein Teil der Legende war widerlegt.

Und auch die Geschichte, Disteli habe den Karzer als Gefangener in einer Nacht-und-Nebel-Aktion bemalt, konnte durch Katharina Heiling dem Reich der Mythen zugeordnet werden. Nach einer Oberflächenreinigung war ein ungestörter Blick auf die Malereien möglich. Anstatt einer zügig in den nassen Kalk gemalten Fresko-Technik arbeitete Disteli in Seccotechnik und malte auf eine bereits trockene Kalktünche, konnte Katharina Heiling nachweisen.

Kunstwerke sind nicht »in Haft« entstanden

Auffällig dabei ist der Einsatz verschiedener Bindemittel an unterschiedlichen Wänden, wodurch sich die Malereien der Nordwand maßgeblich von den anderen Malereien unterscheiden. Man gehe jetzt davon aus, sagt Kustodin Forster, dass der Student Martin Disteli nicht eingesperrt, sondern zu Besuch war und die Möglichkeit nutzte, die bisher ›weißen Wände‹ des Karzers zu bemalen. Das Datum, 30. Juli 1822, bezog sich wahrscheinlich auf den Abschluss dieser Arbeiten. Das Werk des Schweizer Malers und Polit-Karikaturisten Martin Disteli ist ein Kunstwerk, das es zu bewahren gilt.

Restauratorin Heiling hat die Wände und die Farbe stabilisiert, die Ma­lereien gereinigt und Fehlstellen retuschiert. »Spuren, die auf den Gebrauch des Karzers hin­weisen, wurden nicht restauriert«, sagt sie. Eine besondere Herausforderung war ein Fund, den Heiling bei einer Untersuchung mit UV-Strahlung der vierten, bislang einfarbigen Wand gemacht hatte. Die kurzwellige Strahlung kann Materialien eines Kunstwerks zum Fluores­zie­ren anregen und ermöglicht dadurch eine differenziertere Wahrnehmung der verwendeten Mal­materialien. Als Ergebnis dieser Untersuchung wurde nachgewiesen, dass sich hinter später hinzugefügten Farbschichten weitere Malereien befinden. »Die Wand wurde später übermalt«, ist sich Heiling sicher.

Hier spricht Katharina Heiling über ihre Arbeit im Karzer