Im Briefwechsel zwischen Haeckel und Darwin wird der Kosename "Mikluska" von Haeckels Assistenten Miklucho-Maclay erwähnt.

Schwimmblase oder Lunge?

Ein wiederentdeckter Briefwechsel zwischen Charles Darwin und Ernst Haeckel aus dem Jahr 1868 gibt neue Impulse für die Entwicklungsforschung der frühen Wirbeltiere.
Im Briefwechsel zwischen Haeckel und Darwin wird der Kosename "Mikluska" von Haeckels Assistenten Miklucho-Maclay erwähnt.
Foto: Archiv des Ernst Haeckel Hauses Jena

Haben Haie eine Schwimmblase, die ihnen wie den meisten anderen Fischen dabei hilft, im Wasser zu schweben? Diese Frage, die heutige Biologen mit einem klaren »Nein« beantworten können, sorgte vor rund 150 Jahren noch für hitzige Diskussionen. Wie bereichernd diese auch heute noch sein können, das zeigen Forschende der Universität Jena und des Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment (SHEP) an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Text: Sebastian Hollstein


Sie haben einen Briefwechsel zwischen den beiden Pionieren der Evolutionsforschung Charles Darwin und Ernst Haeckel aus dem Jahr 1868 entdeckt, in dem diese ausführlich über ein mögliches Schwimmblasen-Rudiment bei Haien diskutieren. Durch den schriftlichen Austausch der beiden Vordenker lässt sich die damalige Evolutionsforschung hautnah miterleben und sie inspiriert dazu, den Standpunkt in der heutigen Wissenschaft kritisch zu hinterfragen. Die Hauptrolle in diesem Austausch spielt aber ein weniger prominenter, jüngerer Kollege.

Haeckel begeistert – Darwin skeptisch

Ausschlaggebend für ihre Diskussion ist die Forschung von Haeckels damaligem Assistenten Nikolai Nikolajewitsch Miklucho-Maclay. Der russischstämmige Wissenschaftler, der später vor allem als Ethnologe Berühmtheit erlangte, begleitete seinen Lehrer im Herbst 1866 auf eine Forschungsreise auf die Kanarischen Inseln. Dort untersuchte er unter anderem die Gehirne von Haien und entdeckte dabei eher zufällig hinter den Kiemenöffnungen, oben im Übergang zum Darmbereich der Tiere, eine Ausstülpung.

Dieses Gebilde interpretierte Miklucho-Maclay als Rudiment einer Schwimmblase, die bei den Vorfahren aller Wirbeltiere vorhanden gewesen sein musste. Haeckel war begeistert von dieser Entdeckung, da sie seine These unterstützte: Er ging davon aus, dass Haie ursprüngliche Wirbeltiere seien, aus denen die Knochenfische, die Lungenfische und später die Landwirbeltiere hervorgegangen wären. Somit wäre die Schwimmblase evolutionär vor der Lunge entstanden.

Die Entdeckung teilte er in einem Brief seinem von ihm verehrten Kollegen Charles Darwin mit, der am 6. Februar 1868 allerdings eher skeptisch antwortete: »Ich verstehe nicht ganz, was Sie mir über seine Entdeckung der Schwimmblase erzählen […].« Da der Brite in väterlichem Ton »Mikluska« statt »Miklucho« schrieb, blieb der Wissenschaftsgeschichte die Verbindung zu Haeckels Assistenten lange verborgen.

Darwin hatte ein anderes Bild der Wirbeltier-Verwandtschaft im Kopf, was zur Verwirrung beitrug: Er ging davon aus, dass die Lungenfische ursprünglich seien und sich alle Wirbeltiere – auch die Knorpelfische, zu denen die Haie gehören – daraus entwickelt hätten. Für Darwin war die Lunge das ursprüngliche »Gas-Organ«.

Haeckel sollte aber mit seinem Stammbaumentwurf weitestgehend recht behalten, obwohl die Haie seit dem Ursprung aller Wirbeltiere natürlich auch eigenen Veränderungen ausgesetzt waren und heute nicht völlig den ursprünglichen Zustand repräsentieren.

Aber es gab noch einen anderen Streitpunkt: Die von Miklucho-Maclay entdeckte Ausstülpung hielt Darwin nicht für eine rudimentäre Schwimmblase, sondern für eine undifferenzierte Struktur, aus der sich evolutionär einmal eine solche ausbilden könnte. Heute sind sich die Forschenden weitgehend einig, dass Darwin mit dieser Einschätzung recht hatte.

»Es kommt selten vor, dass zwei Geistesgrößen einer Wissenschaft sich in ihrer Korrespondenz den Forschungsergebnissen eines bettelarmen und unbekannten Studenten widmen«, sagt Prof. Dr. Uwe Hoßfeld von der Universität Jena, der seit einigen Jahren gemeinsam mit seinem Kollegen PD Dr. Georgy S. Levit das Wirken Miklucho-Maclays erforscht. Die gefundene Textstelle ist für ihn einmal mehr ein Beleg dafür, welch wissenschaftliches Vermächtnis der junge Russe hinterlassen hat und welchen Einfluss er in wenigen Forschungsjahren – er starb im Alter von 41 Jahren – auf die Geschichte der Zoologie ausgeübt hat, nicht nur an der Universität Jena.

Lunge oder Schwimmblase – das ist hier die Frage

Doch was genau hatte Haeckels Assistent da entdeckt? Um das darzustellen, hat der Tübinger Evolutionsbiologe Dr. Ingmar Werneburg Querschnittabbildungen von Hai-Embryonen analysiert und die Erkenntnisse aus 100 Jahren Forschung, die nach dem Briefwechsel einsetzte, bestätigen können: »Haie und andere Fische atmen durch Kiemen, die im Inneren mit Kiemensäcken verbunden sind. Fünf Kiemenöffnungen auf jeder Seite sind heute bei Haien üblich, ihre Vorfahren hatten möglicherweise mehr, weshalb die heutigen Hai-Embryonen noch einige undifferenzierte Kiemensäcke als Anlagen aufweisen. Sie sind nur als kleine Fortsätze zu sehen, die sich nicht zu Kiemen umbilden, sondern nur nach verschiedenen Seiten hin aussacken«, sagt der Zoologe. »Ein solches Gebilde hat Miklucho-Maclay auch noch in ausgewachsenen Haien gefunden.«

In der Evolution haben sich aus den embryonalen Fortsätzen Lungen oder Schwimmblasen entwickelt, fassen die Forscher zusammen. Und die Beschäftigung mit dem über 150 Jahre alten Briefwechsel brachte sie auch zu neuen Überlegungen, warum sich nur eines der beiden Organe jeweils ausbildete und es nicht etwa Tiere gibt, die sowohl Schwimmblase als auch Lungen haben. Eventuell hatte das mit dem verfügbaren Platz in der Körperhöhle zu tun, der wiederum mit den Lebensbedingungen der Tiere verbunden ist.

»Fische beispielsweise, die in offenen Gewässern schwimmen, sind im Querschnitt eher vertikal ausgerichtet, was im oberen Bereich ihres Rumpfes mehr Platz lässt, in dem sich eine unpaare Schwimmblase, die vorrangig eine hydrostatische Funktion übernimmt, ausdehnen kann«, sagt Ingmar Werneburg. »Fische dagegen, die häufiger am steinigen oder bewachsenen Grund von flachen Gewässern leben, bilden eher eine zweiflüglige Lunge aus. Die Flossen sind mehr in die Breite angelegt und schaffen so im Inneren Platz für die Ausbildung der seitlichen Atmungsorgane aus zwei der unteren embryonalen Aussackungen.«

Zeichnungen eines sezierten Hais von Miklucho-Maclay.

Abbildung: »Jenaische Zeitschrift für Medicin und Naturwissenschaft«
Information

Original-Publikation: 

Darwin, Haeckel, and the »Mikluskan gas organ theory«, Developmental Dynamics (2023), https://doi.org/10.1002/dvdy.661Externer Link

Kontakt:

Uwe Hoßfeld, apl. Prof. Dr.
Leiter der Arbeitsgruppe
vCard
AG Biologiedidaktik
Stoy´sches Haus/Institutsgebäude/Bienenhaus, Raum 103
Am Steiger 3
07743 Jena Google Maps – LageplanExterner Link
Sprechzeiten:
nach Vereinbarung