Ulrike Kruse mit einer Probandin im Versuchslabor. Die Psychologin hat Filmsequenzen inszeniert, anhand derer Augenzeuginnen und -zeugen per VR-Brille Tatverdächtige identifizieren.

Trügerische Erinnerungen

Psychologinnen und Psychologen untersuchen, warum sich Menschen häufig »falsch« erinnern.
Ulrike Kruse mit einer Probandin im Versuchslabor. Die Psychologin hat Filmsequenzen inszeniert, anhand derer Augenzeuginnen und -zeugen per VR-Brille Tatverdächtige identifizieren.
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

»Es ging alles viel zu schnell«, heißt es im Krimi oft, wenn Augenzeuginnen oder -zeugen zum Hergang einer Straftat befragt werden. War der Täter groß oder klein, jung oder alt, welche Farbe hatte seine Jacke? Und selbst wenn die Befragten eine detaillierte Täterbeschreibung geben können, ist diese oft fehlerhaft – im Krimi wie in der Realität. Psychologinnen und Psychologen untersuchen, warum sich Menschen so häufig »falsch« erinnern. Neuartiges 3D-Studienmaterial zur Erforschung von Augenzeugenberichten hat eine Nachwuchswissenschaftlerin von der Universität Jena jetzt erstellt.

Text: Sebastian Hollstein


Aussagen von Augenzeuginnen und -zeugen sind eine der wichtigsten Quellen, um Täterinnen und Täter zu identifizieren – und sie sind eine der fehleranfälligsten. Das »Innocence Project« – eine Organisation, die sich um die Aufklärung von Justizirrtümern in den USA bemüht – gibt beispielsweise an, dass in zwei von drei Fällen, in denen sie die Freilassung falsch Verurteilter erwirken konnten, fehlerhafte Augenzeugenaussagen eine Rolle gespielt haben.

Warum Augenzeuginnen und -zeugen so oft danebenliegen

Um herauszufinden, warum Augenzeuginnen und -zeugen so häufig danebenliegen, ist weitere Forschung notwendig, für die es umfangreiches Anschauungsmaterial braucht. Die Psychologin Ulrike Kruse von der Universität Jena hat dieses nun erstellt und dafür eine ungewöhnliche Methode gewählt: Sie hat eigene Mini-Krimis gedreht. Über ihre Arbeit berichtete sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Stefan R. Schweinberger im Fachmagazin PLOS ONE.

»Ich beschäftige mich seit Jahren intensiv mit dem Thema und musste immer wieder feststellen, dass Material für Studien auf diesem Gebiet kaum vorhanden ist, da Abbildungen meist datenrechtlich geschützt sind und nicht so einfach weitergegeben werden können«, sagt Ulrike Kruse. »Deshalb habe ich mich entschlossen, selbst sogenannte Stimuli zu erstellen, sie für eigene Untersuchungen zu verwenden und vor allem Kolleginnen und Kollegen weltweit zur Verfügung zu stellen.«

Zu diesem Zweck hat die Psychologin mit der Unterstützung von Laienspielgruppen sechs kurze Filmsequenzen gedreht, in denen kleine Vergehen szenisch nachgestellt sind, beispielsweise ein Taschendiebstahl in einem gut besuchten Park. Um für Studien Virtual-Reality (VR)-Methoden einsetzen zu können und so die Augenzeugensituation noch realistischer zu gestalten, kam hierbei auch 3D-Technik zum Einsatz.

Im nächsten Schritt suchte die Jenaer Forscherin 16 Personen, die den Tätern im Film ähnlich sehen, um sie für simulierte Gegenüberstellungen zu fotografieren und ebenfalls Porträts in 3D zu erfassen. »Ich habe Flyer erstellt, über Social Media recherchiert und Leute persönlich angesprochen. Insgesamt hat diese Phase die meiste Zeit in Anspruch genommen«, sagt Ulrike Kruse, die für das Projekt insgesamt rund ein Jahr aufgewendet hat.

Gegenüberstellung mit Tatverdächtigen in der virtuellen Realität

Der Aufbau der Fotodatenbank dauerte auch deshalb so lange, da die Psychologin objektiv überprüfen ließ, ob sich die Männer tatsächlich zum Verwechseln ähnlich sahen. Dafür schauten sich mehrere Personen die Filme an und lieferten danach eine schriftliche Täterbeschreibung ab. In einer Online-Befragung identifizierten dann 130 sogenannte Scheinzeuginnen und -zeugen durch Ansicht der Fotos denjenigen, der auf die Merkmale passte. »Bei einem solchen sogenannten Fairness-Test werden im besten Fall alle Personen in dieser virtuellen Gegenüberstellung einige Male ausgewählt, weil alle auf die Beschreibung passen müssten. In diesem Fall hat das sehr gut geklappt«, erzählt Ulrike Kruse.

Die Jenaer Psychologin verwendete das Material schließlich zunächst für die eigene Forschung. Im Rahmen ihrer Promotion geht sie beispielsweise der Frage nach, ob Menschen, die sich generell gut Gesichter merken können, auch gute Augenzeuginnen und -zeugen sind. »Wenn dem so ist, könnte man – vereinfacht gesagt – Zeuginnen und Zeugen vor Gericht einem allgemeinen Test zu ihren Fähigkeiten in diesem Bereich unterziehen und so ihre Glaubwürdigkeit besser einschätzen«, erklärt sie. Abschließende Ergebnisse dazu stehen aber noch aus.

Mit dem von ihr erstellten Anschauungsmaterial bewegt sich die Jenaer Forscherin auf ganz neuen Pfaden, denn bisher gibt es kaum Studien, in denen sich die Probandinnen und Probanden für ihre Rolle als Augenzeuginnen oder -zeugen per VR-Brille in die virtuelle Realität begeben haben.

»Bisher hat sich herausgestellt, dass es sehr schwierig ist, seine Aufmerksamkeit aufrechtzuhalten, wenn man voll in die Situation eintaucht«, berichtet Ulrike Kruse. »In einem Experiment beispielsweise zeigte weniger als ein Fünftel von 68 Versuchspersonen eine korrekte Erkennungsleistung.« Weitere Forschung in diesem Bereich sei deshalb dringend notwendig.

Information

Original-Publikation: 

The Jena Eyewitness Research Stimuli (JERS) [...]. PLOS ONE (2023), https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0295033Externer Link

Kontakt:

Stefan R. Schweinberger, Univ.-Prof. Dr.
vCard
Professur Allgemeine Psychologie I
Institutsgebäude (Haus 1), Raum 111
Am Steiger 3
07743 Jena Google Maps – LageplanExterner Link