Der Assyriologe Dr. Adrian Heinrich präsentiert eine in Keilschrift beschriebene Tontafel aus der Hilprecht-Sammlung der Universität Jena.

KI entschlüsselt Keilschrift

Im Projekt »Electronic Babylonian Library«, arbeitet ein Team der Assyriologie daran, KI zu befähigen, Keilschrifttexte zu lesen und zu übersetzen.
Der Assyriologe Dr. Adrian Heinrich präsentiert eine in Keilschrift beschriebene Tontafel aus der Hilprecht-Sammlung der Universität Jena.
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Text: Stephan Laudien


Keilschrifttafeln sind die ältesten überlieferten schriftlichen Zeugnisse der Menschheit. Schon vor über 4 000 Jahren ritzten Schriftkundige Zeichen in weichen Ton. Es sind Notizen aus Haushalt und Handel, aber auch liturgische und poetische Texte. Zu den berühmtesten gehören das Gilgamesch-Epos und die Gesetzesstele des Hammurabi. Die Texte entstanden in Mesopotamien, dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Viele der Tontafeln sind nur so groß wie eine Bankkarte und haben die Jahrhunderte überdauert. Selbst die zerstörerische Kraft des Feuers konnte ihnen nichts anhaben; im Gegenteil: gebrannter Ton wird noch haltbarer.

Inhaltlich sind die Keilschrifttafeln ein Rätsel, das sich nur mühsam lösen lässt. Das hat verschiedene Gründe. Da ist zum einen die schiere Menge dieser Artefakte: Weltweit gebe es ungefähr eine halbe Million Keilschrift-Objekte, sagt Dr. Adrian Heinrich. Der 35-jährige Assyriologe arbeitet als Assistent bei Prof. Dr. Johannes Hackl im Institut für Orientalistik, In-dogermanistik & Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie. Gemeinsam mit der Kustodin Marie Young erforscht das Trio die Jenaer Hilprecht-Sammlung, die etwa 3 300 Objekte umfasst und damit die zweitgrößte Sammlung in Deutschland ist.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass es weltweit verstreut Sammlungen gibt und nicht selten Stücke meilenweit voneinander entfernt in der Vitrine liegen, die ursprünglich einmal zusammengehörten. Hinzu kommen zahlreiche Bruchstücke, die nur wenige Keilschriftzeichen enthalten. Als drittes ließe sich die überschaubare Zahl von Altorientalisten ins Feld führen. Dennoch gelang es seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die Keilschrift Stück für Stück zu entschlüsseln.

Wie Adrian Heinrich erklärt, könnte Künstliche Intelligenz (KI) das Ganze jetzt erheblich beschleunigen. Das Jenaer Team ist einer der Kooperationspartner im Projekt Electronic Babylonian Library, das der Münchner Assyriologe Prof. Dr. Enrique Jiménez ins Leben gerufen hat. Das Ziel: eine Künstliche Intelligenz befähigen, Keilschrifttexte zu lesen und zu übersetzen. Als Grundlage dienen präzise Scans, die die Objekte dreidimensional abbilden. »Wir wollen die Forschungs- und die Sammlungsperspektive zusammenführen«, sagt Adrian Heinrich. Das heißt etwa, dass digitale Plattformen die Keilschrifttexte für jedermann einsehbar machen werden. Zudem stehen die Digitalisate für die Wissenschaft weltweit zur Verfügung.

Bruchstücke von Tontafeln dechiffrieren und zusammensetzen

Doch zunächst gilt es, die KI anzulernen, die Texte maschinell zu lesen. Mit der Digitalisierung der Keilschrifttafeln hat schon Hackls Vorgänger Prof. Dr. Manfred Krebernik begonnen, der dafür mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin kooperierte. Jetzt werden weitere Digitalisate in Zusammenarbeit mit der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek erstellt. Wichtig dabei: Die Stücke müssen von allen Seiten lesbar sein. »Jedes Schriftzeichen hat mehrere Lesewerte, was zu unterschiedlichen Textebenen führt«, sagt Dr. Heinrich. Werde die KI mit Daten »gefüttert«, müsse das berücksichtigt werden.

Aktuell sind es noch Trainingsdaten, die maschinell übersetzt werden. Eingepflegt werden zudem vorhandene Übersetzungen, die etwa aus den Nachlässen von Forscherinnen und Forschern stammen. Dazu, erläutert Prof. Hackl, werde eine ähnliche KI eingesetzt, wie sie in der Gen-Forschung etabliert ist. »Da wird nach bestimmten Mustern gesucht.« Das System lerne, die Bildelemente mit Inhalten zu verknüpfen. Ziel sei es, selbst komplexe Suchanfragen über ganze Textkorpora hinweg richtig zu beantworten.

Schon jetzt können sich die Ergebnisse sehen lassen: »Die Trefferquote bewegt sich zwischen 80 und 90 Prozent«, sagt Adrian Heinrich. Einen weiteren Vorteil verspricht die KI-Anwendung. Mit ihrer Hilfe wird es möglich sein, die zahlreichen kleinen Tafel-Bruchstücke zu dechiffrieren und wieder zusammenzusetzen. Es wäre ein großer Schritt für die Wissenschaft.