Mathilde Vaerting.

Ihrer Zeit voraus

Mathilde Vaerting war die erste ordentliche Professorin an einer deutschen Universität.
Mathilde Vaerting.
Foto: Universitätsarchiv Bielefeld, NLMW 707,1_30

Vor 100 Jahren, im Herbst 1923, wurde Mathilde Vaerting als erste ordentliche Professorin Deutschlands an die Universität Jena berufen. Unter ihren Kollegen stieß die Pädagogin jedoch auf Ablehnung – vor allem weil sie eine Frau war.

Text: Sebastian Hollstein


Erste ordentliche Professorin an einer deutschen Universität – was heute nach einer bedeutenden gesellschaftlichen Errungenschaft und nach einer historischen Zäsur klingt, war für Mathilde Vaerting zeitlebens eine große Bürde. Denn die Universität Jena und ihre Professoren empfingen sie im Wintersemester 1923/24 nicht mit offenen Armen, sondern mit der kalten Schulter. Ihre Antrittsvorlesung »Erziehung zum Kulturfortschritt« – eigentlich ein feierlicher Moment – hielt sie, anstatt in festlichem Rahmen in der Aula, an einem Samstagvormittag in einem kleinen Hörsaal, ohne dass eine größere Öffentlichkeit davon Notiz nahm. Doch warum stieß die Personalie auf so viel Widerstand?

Johanna Mathilde Vaerting, geboren 1884 im Emsland in eine begüterte und kinderreiche Bauernfamilie, studierte Mathematik, Physik, Philosophie, Psychologie und Latein in Bonn, München, Marburg und Gießen und wurde 1911 in Bonn im philosophischen Bereich promoviert. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lehrerin in Berlin, forschte nebenbei und besuchte Lehrveranstaltungen in Medizin und Soziologie.

Geschlecht spielt bei Bildung keine Rolle

Ihre Forschungsarbeiten richteten sich schon früh gegen etablierte Lehrmeinungen und Unterrichtspraktiken, etwa wenn sie sich gegen das Auswendiglernen als Unterrichtsmethode und für eine Gleichberechtigung zwischen Lehrenden und Lernenden aussprach. Zudem widmete sie sich zunehmend einem Wissenschaftsbereich, den es zu diesem Zeitpunkt kaum gab: der Geschlechterforschung.

Mathilde Vaerting stellte dabei klar heraus, dass das Geschlecht bei der Bildung keine Rolle spiele. Mädchen seien in naturwissenschaftlichen Bereichen nicht weniger begabt als Jungen. Unterschiede entstünden nur durch verschiedene gesellschaftliche Machtpositionen – angeblich geschlechtsspezifische Eigenschaften seien ein Resultat von Herrschaftsverhältnissen. Sie verband auf diese Weise pädagogische, psychologische und soziologische Ansätze miteinander und öffnete den Weg für neue wissenschaftliche Fragestellungen.

Ihre Habilitationsschrift, die sie 1919 an der Universität Berlin eingereicht hatte, wurde, nicht zuletzt wegen Vorbehalten gegen das Forschungsgebiet, abgelehnt. Trotzdem verschaffte ihr die veröffentlichte Fassung der Arbeit mit dem Titel »Die Neubegründung der Psychologie von Mann und Weib« Bekanntheit und Anerkennung und befeuerte möglicherweise ihre wissenschaftliche Laufbahn. Denn der damalige Thüringer Minister für Volksbildung Max Greil berief sie 1923 im Rahmen einer umfassenden Reform des Thüringer Schulwesens als Professorin für Pädagogik an die Universität Jena.

Deren Leitung sah darin jedoch einen Eingriff in ihre Autonomie – erst recht, da hier erstmals eine Frau einen Lehrstuhl besetzte. Kollegen sprachen ihr die fachliche Eignung ab. Der Zoologe und Antisemit Ludwig Plate veröffentlichte sogar eine Schmähschrift mit dem Titel »Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft« gegen sie. Peter Petersen, den Greil ebenfalls nach Jena berufen hatte, sah sich weitaus weniger behelligt und baute seine Position an der Universität auch auf Kosten der Kollegin aus.

Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten 1933 verlor Vaerting ihre Professur und wurde vom Hochschuldienst ausgeschlossen. Sie zog zurück nach Berlin. Ein Ausreiseverbot verhinderte, dass sie Rufe an Universitäten in den Niederlanden oder in den USA annehmen konnte. Ein Publikationsverbot verhinderte das Fortführen ihrer wissenschaftlichen Arbeit.

Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb ihr die Rückkehr an eine Universität verwehrt. Sie wandte sich der Staatssoziologie zu, konnte aber nicht mehr Fuß fassen in der Wissenschaft. Mathilde Vaerting starb am 6. Mai 1977 in Schönau im Schwarzwald. Seit den 1990er Jahren wird ihr Werk wiederentdeckt. Heute gilt sie als wenig bekannte, aber nicht weniger bedeutende Vorreiterin einer Pädagogik, die gesellschaftlichen Machtverhältnissen und der Wirkung von Differenzkategorien Rechnung trägt.

Seit Herbst 2023 erinnert eine Gedenktafel im Universitätshauptgebäude an Mathilde Vaerting. Außerdem veröffentlichte die Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte gemeinsam mit der Universität eine umfangreiche Broschüre zu Leben und Werk der ersten ordentlichen Professorin an einer deutschen Universität.