Prof. Dr. Caroline Rosenthal untersucht, wie sich das Anthropozän und seine Folgen in der nordamerikanischen Literatur ausdrücken. Im Rahmen von »ThWIC« möchte sie ein Modell des Hydroregionalismus entwickeln.

Narrative sind oft wirkungsvoller als Statistiken

Die Amerikanistin Caroline Rosenthal erforscht die Bedeutung von Wasser in der nordamerikanischen Literatur.
Prof. Dr. Caroline Rosenthal untersucht, wie sich das Anthropozän und seine Folgen in der nordamerikanischen Literatur ausdrücken. Im Rahmen von »ThWIC« möchte sie ein Modell des Hydroregionalismus entwickeln.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Das Verhältnis von Mensch und Natur rückt immer mehr in den Fokus von Kunst und Kultur - und wird somit auch zum Forschungsthema der Geisteswissenschaften. Kein Wunder also, dass sie auch im Thüringer WasserInnovationscluster »ThWIC« eingebunden sind. Die Amerikanistin Caroline Rosenthal erforscht, wie sich Wasser in der Literatur Nordamerikas niederschlägt und somit ganze Regionen prägen, definieren und verändern kann.

Text: Sebastian Hollstein


»Das Prinzip aller Dinge ist das Wasser, denn Wasser ist alles und ins Wasser kehrt alles zurück.« Diese Weisheit des antiken Philosophen Thales von Milet haben sich über die Jahrtausende nicht nur Wissenschaften zur Grundlage genommen, sondern auch die Kunst. Nichts Geringeres als Leben und Tod finden seit Jahrtausenden symbolischen Ausdruck in flüssiger Gestalt: ob als unbezähmbare, göttliche Naturgewalt wie in den Fluten des Gilgamesch-Epos oder der biblischen Sintflut sowie in Form mythologischer Wesen wie Meerjungfrauen und Wassermännern oder als lebendiger Kosmos wie im Kinospektakel »Avatar: The Way of Water«. Flüsse in literarischen Werken liefern perfekte Metaphern für den mäandernden Lauf des Lebens, die scheinbare Unendlichkeit der Meere öffnet literarischen Heldinnen und Helden sowie den Lesenden selbst Reflexions- und Möglichkeitsräume.

Doch in den zurückliegenden Jahrzehnten haben sich in der Literatur verschiedene Strömungen entwickelt, die Wasser – und Natur im Allgemeinen – nicht mehr nur als bloße Kulisse oder als stilistisches Mittel verwenden, sondern seine Bedeutung und die zunehmenden ökologischen Probleme konkret thematisieren. »Literatur und Kunst haben eine große Bedeutung und Kraft, um Probleme zu artikulieren und in die Gesellschaft zu tragen«, sagt Prof. Dr. Caroline Rosenthal. »Narrative sind oft wirkungsvoller als bloße Statistiken.«

Politische Dimension der Naturbetrachtung

Die Amerikanistin beschäftigt sich bereits seit einigen Jahren damit, wie sich das Anthropozän – das vom Menschen geprägte Zeitalter der Erdgeschichte – in der nordamerikanischen Literatur niederschlägt. »Im 19. Jahrhundert, in der Epoche der Romantik, entwickelte sich vor allem in Großbritannien und den USA das Genre des Nature Writing, in dem Autorinnen und Autoren das Erleben von Landschaft, Flora und Fauna in den Mittelpunkt stellten. Diese Begegnung hat dabei häufig auch eine politische Dimension, beispielsweise hinsichtlich des nationalen Selbstverständnisses der Vereinigten Staaten.« Weite Landschaften und scheinbar unberührte Natur vermittelten Größe und Freiheit.

Auf diese Weise wird Literatur zum Seismographen der Gesellschaft, nimmt heute die ökologischen Diskussionen unserer Zeit auf und gibt sie weiter. Angesichts von Bedrohungen wie Umweltverschmutzung, Artensterben und Klimawandel hinterfragen Strömungen wie der in den 1970er Jahren in den USA entstandene Ecocriticism das Verhältnis von Mensch und Natur kritisch. Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Denkrichtung fordern unter anderem, dass sich der Mensch als Teil des Ökosystems betrachten und sich seiner Verantwortung dafür bewusst werden muss. Gerade der Literatur fällt hier eine Schlüsselposition zu: Sie kann sensibilisieren, Gefahren vor Augen führen, Möglichkeitsräume für Veränderungen öffnen und damit direkt in die Gesellschaft wirken. 

Gewässer definieren Identität von Regionen

Solche Denkansätze werden zunehmend Thema der Literaturwissenschaften – auch in Jena. An Caroline Rosenthals Lehrstuhl für Amerikanistik haben sich Doktorandinnen und Doktoranden, die zu diesem Themenkomplex promovieren, zu einem »Ecocriticism Research Collective« zusammengefunden.

 Zudem ergründen Jenaer Amerikanistinnen und Amerikanisten in einem Teil-Projekt des »Thüringer Wasser-Innovationsclusters«, wie Wasser und Gewässer die Identität einer Region prägen. Ziel des Projektes ist es, ein Modell des Hydroregionalismus zu entwickeln. Ausgangspunkt ist hierbei die Idee des Bioregionalismus - ein im Kalifornien der 1970er Jahren entstandenes Konzept, nach dem geologische und geografische Faktoren und kulturelle Praktiken eine Region definieren und nicht politische Grenzen. Wasserscheiden, Gebirgszüge und beispielsweise gemeinsame Erzähltraditionen spielen dabei eine entscheidende Rolle. »Wir gehen davon aus, dass auch Wasser in all seinen Erscheinungsformen für ein jeweiliges Bezugsgebiet eine solche verbindende Funktion erfüllen kann", sagt Caroline Rosenthal. "Das betrifft sowohl das tradierte Wissen über Wasser in einer Region als auch symbolische Zuschreibungen, wie Mythen und Sagen die bis heute in verschiedener Form existieren.«

Um anhand einer Beispielregion an der Westküste Kanadas das Modell zu entwerfen, suchen die Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zunächst nach fiktionalen und nichtfiktionalen Quellen, die Informationen über Wasser vor Ort speichern. Wo hat das Wasser seinen Ursprung? Wo fließt es hin? Welche Niederschlagszyklen gibt es? Wie ist die Qualität des Wassers? Welchen Bezug haben die Bewohnerinnen und Bewohner zu einzelnen Gewässern? Welche Geschichten und symbolischen Aufladungen von Raum hat Wasser hervorgebracht? Hinsichtlich solcher Fragen gilt es, Texte auszuwerten und im nächsten Schritt Bedeutung und Funktion des Wassers für das entsprechende Gebiet herauszufiltern. So erfahren die Forschenden mehr über die kulturellen Traditionen der Region – und legen möglicherweise eine gemeinsame, vom Wasser definierte Identität in der Region frei, die mehr Bewusstsein für die Umwelt schafft und Verhaltensänderungen anregt. 

Literatur als Möglichkeitsraum für den Umgang mit Wasser

»Wir wollen Literatur als hypothetischen Möglichkeitsraum betrachten, der verschiedene Szenarien für den zukünftigen Umgang mit der materiellen und kulturellen Ressource Wasser erlaubt«, erklärt Caroline Rosenthal. »Und Menschen, die sich mit dem Wasser in ihrer Umgebung identifizieren, schützen es auch mehr.«