Dr. Karina Becker ist Geschäftsführerin des Forschungskollegs »Postwachstumsgesellschaften«

Gesellschaft am Wendepunkt

Sind wir auf die »​Große Transformation«​ vorbereitet?​
Dr. Karina Becker ist Geschäftsführerin des Forschungskollegs »Postwachstumsgesellschaften«
Foto: Jan-Peter Kasper (Universität Jena)

Die Klimakrise erfordert eine radikale Wende in der Wirtschaft, im Verkehr und der Energieversorgung; die Digitalisierung macht unsere Lebens- und Arbeitswelt immer schneller und komplexer. Angesichts dieser tiefgreifenden Umwälzungen sind Soziologinnen und Soziologen überzeugt, dass der gesellschaftliche Wandel eine kritische Schwelle erreicht hat. Wir befinden uns am Beginn einer »Großen Transformation«. Sind wir darauf vorbereitet?

Tiefgreifende Veränderungen vollziehen sich gerade und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen. »Sowohl in politischer, als auch ökologischer und ökonomischer Hinsicht befinden wir uns gegenwärtig in einer Umbruchsituation«, konstatiert Dr. Karina Becker. Die fundamentalen Veränderungen weisen für die Soziologin starke Ähnlichkeiten mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen auf, die der Sozialwissenschaftler und Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben hat.

»Der Transformationsbegriff passt auch deshalb, weil sich erneut rechtspopulistische Bewegungen in ganz Europa formieren. Die wichtigste Parallele stellt aber die allgemeine Krisensituation dar, in der sich die Gesellschaft gerade befindet.« Becker zufolge kann man sie auch als Zangenkrise bezeichnen, weil sie der Gesellschaft von ökonomischer und ökologischer Seite zusetzt. Die Kernfrage lautet, ob sich Wachstumszwänge und soziales Wohlergehen voneinander entkoppeln lassen.

Becker macht dies an einem einfachen Beispiel fest: Wenn die Konjunktur schwächelt, setzt die Politik auf Maßnahmen zur Steigerung des Wirtschaftswachstums. So lässt sich zwar vorübergehend soziale Stabilität erzeugen, gleichzeitig entsteht aber ein neues Problem: »Ab einem gewissen Punkt erfordert das Wachstum eine Übernutzung von Ressourcen und es verschärfen sich die ökologischen Probleme«, so Becker. Im Gegenzug sieht sich die Wirtschaft bei politischen Entscheidungen, die zum Wohle der Umwelt getroffen werden, einem Transformationsdruck ausgesetzt — etwa bei der Umstellung vom Verbrennungsmotor auf die E-Mobilität.

Eine Studie des Forschungskollegs »Postwachstumsgesellschaften« der Universität Jena hat nun die Folgen untersucht, die sich aus den Transformationsanforderungen für die thüringische Zulieferindustrie in der Automobilbranche ergeben. Darin haben Karina Becker und ihre Kolleginnen und Kollegen empirisch erfasst, inwiefern Problembewusstsein und Strategiefähigkeit bei kleinen und mittleren Betrieben in der Wertschöpfungskette Automobil vorhanden sind. In Thüringen bilden diese Betriebe einen wichtigen Wirtschaftszweig mit knapp 60.000 Beschäftigten.

»Transformationskurzarbeitergeld« und berufliche Weiterbildung

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass diese Unternehmen aus eigener Kraft nur begrenzt dazu in der Lage sind, Lösungen für eine CO2-reduzierte Zukunft zu entwickeln. Zum einen unterschätzen viele betriebliche Akteure die Dramatik des Wandels, zum anderen fehlen ihnen die Ressourcen, um eine eigenständige Strategie zu entwickeln und den Strukturwandel mitzugestalten.

In der Untersuchungsregion in Thüringen, die noch bis vor kurzem von De­industrialisierung und Abwanderung geprägt war, können große Be­­schäf­ti­gungs­ver­luste in der Automobil­industrie zu erheblichen materiellen Wohlstandsverlusten, gesellschaftlichen Spaltungsprozessen und einer Hinwendung zu populistischen Positionen führen. »Die Krise des Wertschöpfungssystems Automobil steht daher beispielhaft für sozialökologische Transformationskonflikte«, sagt Karina Becker. In ihr zeigt sich, dass beschäftigungs-, industrie- und umweltpolitische Ziele zusammengedacht werden müssen. Becker sieht die Politik in der Pflicht: »Es bedarf einer regionalen Industriepolitik als Teil einer umfassenden Strukturpolitik, um das Problembewusstsein zu schärfen und Alternativen aufzuzeigen

Ein Schritt in die richtige Richtung sei das sogenannte Transformationskurzarbeitergeld, das Gewerkschaften bereits fordern. Zudem seien Investitionen in die berufliche Weiterbildung nötig, um den Menschen neue Beschäftigungsperspektiven zu geben.

Text: Till Bayer

 

In seinem 1944 erschienenen Buch »The Great Transformation« beschreibt der Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi einen Wendepunkt der Geschichte. Er war davon überzeugt, dass die Liberalisierung der Wirtschaft, die im 19. Jahrhundert durchgesetzt worden war, schwere Folgen nach sich zog: Weil seitdem Land, Arbeit und Geld wie ganz normale Waren behandelt wurden, sei eine zerstörerische Dynamik entstanden, die sozialistische und faschistische Neuordnungsversuche hervorrief und die Gesellschaft in ihrem Fortbestand bedrohte. Heute verwenden Soziologinnen und Soziologen den Begriff der »Großen Transformation« erneut. Auf diese Weise wollen sie deutlich machen, dass wir es auch gegenwärtig mit einer krisenhaften Umbruchssituation zu tun haben.

»Das politische System ist erstaunlich robust.«

Interview mit Dr. Karina Becker: Die Soziologin forscht zu Themen wie Gerechtigkeit in Betrieben und Arbeitssicherheit. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Geschäftsführerin des Forschungskollegs »Postwachstumsgesellschaften«.

Was hat dazu geführt, dass sich jetzt wieder eine »Große Transformation« ereignet?
Lange Zeit bestand Einigkeit darüber, dass moderne Gesellschaften zugleich dynamische Wachstumsgesellschaften sind. Das heißt, sie können nur dann stabil sein, wenn ökonomisch-technische Effizienz und wachsender Wohlstand gleichermaßen gewährleistet sind. Im Industriekapitalismus hat das noch gut funktioniert, seit einigen Jahren erleben wir aber einen Kontinuitätsbruch. Die ökologischen Schäden dieses Wachstumspfads werden zunehmend spürbar und die Ungleichheit - in letzter Zeit vor allem innerhalb der Nationalstaaten - nimmt zu.

Warum redet die Politik beim Thema Umwelt um den heißen Brei, wenn es um echte Veränderungen geht?
Das liegt daran, dass Politikerinnen und Politiker zwischen verschiedenen Interessen stehen und diese ausbalancieren müssen. Ein SUV-Verbot mag etwa ökologisch sinnvoll sein. Es lässt sich aber nur schwer umsetzen, wenn dies von großen Teilen der Bevölkerung als Bevormundung empfunden wird. Durch den ökologisch bedingten Strukturwandel drohen zudem viele Beschäftigte ihre Arbeitsplätze zu verlieren. In thüringischen Betrieben spricht man bereits von einer zweiten »Wende«. Diese existenziellen Ängste muss die Politik sehr ernst nehmen.

Ist unsere Demokratie in Gefahr, wenn diese Ängste zunehmen?
Allgemein gilt, dass die Stabilität einer Demokratie durch das Befrieden gesellschaftlicher Interessen gewährleistet ist. Derzeit lässt sich jedoch eine Polarisierung der Gesellschaft konstatieren, die demokratiegefährdend werden kann. Im Kolleg »Postwachstumsgesellschaften« wurde der Zusammenhang von Wachstum und gesellschaftlicher Stabilität untersucht. Das Beispiel Griechenland zeigt, dass relative Stabilität auch jenseits von Wachstum möglich ist. Im Zuge der europäischen Austeritätspolitik wurde das Land im Grunde völlig abgewirtschaftet. Trotz des ausbleibenden Wachstums erweist sich das politische System jedoch als erstaunlich robust, zumindest werden die marktwirtschaftlichen Basisinstitutionen nicht ernsthaft in Frage gestellt. Die Fähigkeit zur Selbststabilisierung ist in Demokratien demnach stark ausgeprägt.


Wie können wir als Gesellschaft auf die »Große Transformation« reagieren?
Eine Patentlösung gibt es nicht. Im Grunde läuft alles darauf hinaus, dass die reichen Industrienationen eine soziale und ökologische Nachhaltigkeitsrevolution anstoßen und durchlaufen sollten und dabei global eine Art Vorreiterrolle einnehmen. Die Hoffnung ist, dass sich möglichst viele Länder dieser Strategie über kurz oder lang anschließen.

Blicken Sie optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft?
Optimistisch gestimmt bin ich hinsichtlich der Sensibilisierung in der Bevölkerung für beide Seiten der Zangenkrise. Das gilt besonders für die ökologische Frage, die innerhalb weniger Jahre aus einer Nische in die Mitte der Gesellschaft gerückt ist. Eher pessimistisch sehe ich die zunehmende gesellschaftliche Spaltung, für die es momentan keine Lösung zu geben scheint. Aus meiner Sicht sollten wir aber nicht aufgeben und uns gegenseitig den Rücken zuwenden. Wenn die Menschen nicht miteinander reden, zementieren sie die Polarisierung nur noch weiter.

Interview: Till Bayer