Unermüdliche Mahnerin gegen das Unrecht in ihrem Heimatland Russland: die Historikerin und  Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa.

Die Stimme der Opfer des Stalinismus

Porträt der Mitgründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial Irina Scherbakowa
Unermüdliche Mahnerin gegen das Unrecht in ihrem Heimatland Russland: die Historikerin und Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Irina Scherbakowa ist Mitgründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete NGO ist inzwischen vom russischen Staat liquidiert und enteignet worden. Die Historikerin und Menschenrechtsaktivistin hat daraufhin wie Hunderttausende Russland den Rücken gekehrt und lebt derzeit im Exil in Thüringen. Das Porträt einer unermüdlichen Kämpferin für die Rechte der Entrechteten.

Text: Ute Schönfelder


Ein Donnerstagvormittag im November 2022. Irina Scherbakowa sitzt in ihrer Wohnung in Weimar, die seit knapp einem halben Jahr ihr Zuhause ist und erinnert sich an den 7. Oktober 2022. »Ich saß auch hier und habe wie jetzt ein Video-Interview gegeben, als sich plötzlich ein Nachrichtenfenster in russischer Sprache öffnete. Das Online-Portal Meduza berichtete, dass der Friedensnobelpreis unter anderem an Memorial geht.« Eigentlich, so gesteht sie, habe sie bis zu diesem Moment gar nicht daran gedacht, dass dieser erste Freitag im Oktober der Tag ist, an dem das norwegische Nobelkomitee die Preisträgerinnen und Preisträger bekanntgibt.

Memorial, die vor mehr als 30 Jahren in der Sowjetunion von Irina Scherbakowa mitgegründete Menschenrechtsorganisation, war in der Vergangenheit bereits mehrfach für den Preis nominiert. Zahlreiche andere Auszeichnungen hatte die NGO bereits erhalten, etwa den alternativen Nobelpreis 2004. »Dass uns gerade jetzt in dieser schweren Zeit der Friedensnobelpreis zuerkannt wird, ist eine große Unterstützung und Anerkennung und gibt uns Gewissheit, dass die vergangenen 30 Jahre in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht umsonst waren. Und es ist eine Motivation, diese Arbeit fortzuführen, auch unter den aktuellen schwierigen Umständen.«

Wenn sie an diesen Tag zurückdenkt, dann waren es vor allem die Umstände in Moskau, die sie beschäftigt hatten. »Meine Kolleginnen und Kollegen saßen zum Zeitpunkt der Verkündung in einem Gerichtssaal. An diesem Tag sind unsere Räumlichkeiten vom Staat gesetzwidrig konfisziert worden. Das machte die ganze Situation ziemlich absurd.« Ende 2021 war Memorial International von der russischen Regierung aufgelöst worden. Im Februar 2022 wurde dies durch den obersten Gerichtshof des Landes endgültig bestätigt. Trotzdem sind Irina Scherbakowa und ihre vielen Mitstreiterinnen und Mitstreiter seither keinen Tag untätig gewesen und arbeiten weiter in mehreren Dutzend internationalen und regionalen Memorial Organisationen inner- und außerhalb Russlands.

Die Wochen unmittelbar nach der Ankündigung der Nobelpreisverleihung beschreibt Scherbakowa als turbulent: Interviews, Vorträge, Fernsehauftritte, die Verleihung des Marion-Dönhoff-Preises für internationale Verständigung und Versöhnung, eine Rede vor dem EU-Parlament, unermüdliche Arbeit gegen das Unrecht in ihrer Heimat. An der Universität Jena hielt sie zu Beginn dieses Wintersemesters eine bewegende Festrede zur Feierlichen Immatrikulation. Wie auf ein Stichwort klingelt Scherbakowas Handy. Sie nimmt den Anruf entgegen und antwortet knapp: »Ich kann jetzt nicht.« Dann schaltet sie das Telefon aus und sagt entschuldigend: »So geht das die ganze Zeit.«

Stalinistischer Terror prägte die Familiengeschichte

Irina Scherbakowa wurde 1949 in Moskau geboren, »noch während der Stalinzeit«, wie sie betont. Sie stammt aus einer kommunistisch-geprägten Familie mit jüdischen Wurzeln. Ihr Großvater war in den 1920er und 30er Jahren Funktionär der »Komintern«, der von Lenin gegründeten »Kommunistischen Internationale«. Ihre Mutter wuchs im berühmten Moskauer »Hotel Lux« auf, damals Gästehaus der Komintern. Es beherbergte in den 1930er Jahren zahlreiche politische Emigranten, viele von ihnen aus Deutschland.

»Das war eine hochpolitische Atmosphäre. Die meisten Kollegen und Freunde meines Großvaters sind zu Opfern des großen stalinistischen Terrors der 1930er Jahre geworden.« Diese Erfahrungen der Eltern und Großeltern haben Irina Scherbakowa bereits in ihrer Kindheit und Jugend geprägt. Ihr Vater war Literaturwissenschaftler und gab eine Literaturzeitschrift heraus.

»Die Literatur war sein Weg, über die Geschehnisse der Stalinzeit aufzuklären«, sagt sie. In der poststalinistischen Ära der 1950er Jahre war das meist nur im Geheimen möglich; viele Bücher, die über die Schrecken des Terrors und des Gulags berichteten, erschienen im Selbstverlag und waren verboten. Bis in die Zeit des politischen »Tauwetters« in den 1960er Jahren, als die Novelle »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« von Alexander Solschenizyn erstmals den Alltag eines Gulag-Häftlings schilderte, war nur sehr wenig zu diesem Thema überhaupt veröffentlicht worden.

Über diese Art der Literatur fand Irina Scherbakowa später ihren eigenen Zugang zur Geschichte und ihrer beruflichen Karriere. »Eigentlich wollte ich Geschichte studieren, aber nicht das ideologisierte Studium der damaligen Zeit«, erinnert sie sich. Also entschied sie sich für Germanistik. Nach Studium und Promotion an der Universität in Moskau arbeitete sie zunächst als Übersetzerin für deutsche Belletristik sowie als Journalistin und Redakteurin für Literaturzeitschriften.

Ende der 1970er Jahre begann Irina Scherbakowa heimlich Interviews mit Gulag-Überlebenden zu führen und archivierte die Gespräche auf Tonband. »Diese Menschen waren damals die einzige Quelle, die es über das Gulag-System gab. Die offiziellen Spuren waren gründlich beseitigt worden, die Archive unter Verschluss«, sagt sie. Für sie war wichtig, dass die Opfer der politischen Verfolgung nicht vergessen, sondern rehabilitiert wurden, indem sie offen über das sprechen konnten, was ihnen widerfahren war. Bis in die 1990er Jahre nahm Irina Scherbakowa etwa 100 Zeitzeugengespräche auf.

Nach und nach entstand dabei ein Bild des gewaltigen Ausmaßes der stalinistischen Repression und des Unrechts. Mit Michail Gorbatschow an der sowjetischen Partei- und Staatsspitze kamen Ende der 1980er Jahre »Glasnost« und »Perestroika«, die zur Initialzündung einer großen Bewegung wurden, die Millionen Menschen in der Sowjetunion erfasste und aus der heraus im Jahr 1988 die Menschenrechtsorganisation »Memorial« gegründet wurde. Irina Scherbakowa gehörte zu deren Gründungsmitgliedern, der Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow war erster Vorsitzender.

Ende der 1980er Jahre stieß sie bei ihren Recherchen über das sowjetische Lagersystem auf die Geschichte des Sonderlagers Buchenwald 2. Zwischen 1945 und 1950 wurden auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers der Nationalsozialisten von der sowjetischen Besatzungsmacht deutsche Gefangene interniert. Neben Buchenwald gab es neun weitere dieser Lager in der sowjetischen Besatzungszone, in denen insgesamt rund 150 000 Menschen interniert waren.

Irina Scherbakowa koordinierte anschließend gemeinsam mit Historikern der Fernuniversität Hagen ein Forschungsprojekt, zu dem auch Jenaer Historiker wie Lutz Niethammer und Volkhard Knigge dazustießen, das die Geschichte dieser Speziallager aufarbeitete. Seit dieser Zeit entwickelte sich ein enger Kontakt nach Thüringen.

Langjährige wissenschaftliche Kontakte nach Thüringen

Es folgten zahlreiche gemeinsame Projekte, darunter die Ausstellung »Spuren des Gulag« von Memorial und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora die, von Scherbakowa und Knigge geleitet, in Buchenwald und an anderen Orten in Deutschland gezeigt wurde. Seit den Nullerjahren setzte sich die Zusammenarbeit mit Norbert Frei und dem Jena Center für Geschichte des 20. Jahrhunderts der Universität Jena fort, an dem sie im Wintersemester 2008/09 Gastprofessorin war. Seit 1999 ist Scherbakowa auch selbst Mitglied des wissenschaftlichen Kuratoriums der Stiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Diese enge Beziehung nach Weimar und Jena gab den Ausschlag, dass Irina Scherbakowa heute in Thüringen lebt. »Noch unmittelbar vor dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar habe ich nicht damit gerechnet, dass ich Russland verlassen würde«, sagt sie heute. Mit den immer massiver werdenden Repressalien gegen Memorial und seine Mitglieder wuchs jedoch ihre Sorge, dass eine Ausreise irgendwann nicht mehr möglich sein könnte.

Und so kehrte sie wie Hunderttausende ihrer Landsleute im März gemeinsam mit ihrem Mann Russland den Rücken. Zunächst lebte sie ein paar Monate in Tel Aviv und seit Sommer 2022 in Weimar. Seit Beginn des Wintersemesters hat sie als Gastprofessorin am Imre Kertész Kolleg der Uni Jena nun auch ihre wissenschaftliche Heimat in Thüringen gefunden.