Christian Kreuder-Sonnen ist Juniorprofessor für  Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Internationale  Organisationen.

Multilateralismus am Ende?

Ein Kommentar von Juniorprofessor für Politikwissenschaft Christian Kreuder-Sonnen
Christian Kreuder-Sonnen ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Internationale Organisationen.
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine steht der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) – und mit ihm das gesamte System der kollektiven Sicherheit – in der Kritik. Schließlich waren die in der UN-Charta festgelegten Mechanismen der Konfliktprävention bzw. -bearbeitung nicht in der Lage, den Krieg zu verhindern oder ihn seitdem nennenswert zu entschärfen. Ist der Sicherheitsrat damit gescheitert?

In der Theorie funktioniert das UN-System der kollektiven Sicherheit so, dass der Überfall eines Staates auf einen anderen Staat von der internationalen Gemeinschaft, vertreten durch den UN-Sicherheitsrat, so stark diplomatisch, wirtschaftlich oder militärisch sanktioniert wird, dass ein potenzieller Aggressor von seinem Vorhaben abgeschreckt oder ein tatsächlicher Aggressor von seinem eingeschlagenen Kurs abgebracht wird. In der Praxis wird die Umsetzung dieses Prinzips jedoch durch die Abstimmungsregeln im Sicherheitsrat erschwert. Wie allseits bekannt, bedarf es zur Verabschiedung einer Resolution der Zustimmung der fünf ständigen Mitglieder, darunter auch Russland.

Dieses Vetorecht für die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hat ein effektives multilaterales Management von Krisen unter Beteiligung eines oder mehrerer dieser Staaten von vornherein praktisch ausgeschlossen. Nicht zuletzt auf Betreiben der USA sollte die Funktion des Sicherheitsrats faktisch darauf begrenzt werden, einerseits Kriege kleinerer oder aufstrebender Staaten zu erschweren und andererseits Kriege zwischen den Großmächten selbst zu verhindern. Eigene koloniale, imperiale oder später liberale Kriege wollten sich die Vetomächte jedoch offenhalten. Insofern kann von einem Scheitern des Sicherheitsrates im Ukraine-Krieg eigentlich nicht gesprochen werden. Vielmehr zeigen sich mit aller Klarheit die absichtlich angelegten Schwächen des Systems.

Doch selbst ein Sicherheitsrat mit repräsentativerer Mitgliedschaft und ohne Vetorecht hätte in der gegenwärtigen geostrategischen Lage wohl nur bedingt Veränderungen erzwingen können. Zwar wäre durch Mehrheitsentscheidungen denkbar, dass der Rat Russland per Resolution verurteilt und weitreichendere Sanktionen angenommen hätte. Ein militärischer Eingriff hingegen wäre aber wohl weiterhin ausgeschlossen gewesen. Schließlich  ist die NATO die einzige militärische Kraft, die fähig wäre, eine vom Sicherheitsrat autorisierte Mission gegen die russische Invasion der Ukraine durchzuführen. Dies hätte jedoch eine direkte Konfrontation von Nuklearmächten zur Folge, deren Verhinderung im übergeordneten Interesse der Menschheit insgesamt liegt. 

UN spielen auch im Ukraine-Krieg eine wichtige Rolle

Es gehört zu den bitteren Erkenntnissen aus dem Ukraine-Krieg, dass die institutionellen Errungenschaften der Nachkriegszeit sowie ihre Vertiefung nach dem Ende des Kalten Krieges allein keinen effektiven Schutz vor Macht- und Interessenpolitik mit kriegerischen Mitteln bieten. Der Multilateralismus und das Völkerrecht sind nur so stark wie die Internalisierung ihrer Normen durch die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft. Solange Staaten wie China und Indien, die zusammen ein Drittel der Erdbevölkerung ausmachen, und mit ihnen eine Menge autoritär regierter Entwicklungsländer schon eine Verurteilung der russischen Aggression ablehnen, ist mit den bestehenden Instrumenten wenig zu gewinnen.

Nichtsdestotrotz spielen die Vereinten Nationen auch im Ukraine-Krieg eine enorm wichtige Rolle. Neben einigen deklaratorischen Resolutionen der UN-Generalversammlung und dem Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat, die die diplomatische Isolation des Landes vorantrieben, steht vor allem die humanitäre Komponente der Arbeit der UN im Vordergrund. Spezialorganisationen wie das UN-Flüchtlingshilfswerk, das Welternährungsprogramm oder das UN-Büro zur Koordination humanitärer Hilfe (UNOCHA) sind hier in der Erstversorgung zentral und tragen zur Linderung menschlichen Leids bei.

Zudem sind diejenigen Unterorgane der UN von großer Bedeutung, die für die unabhängige Beschaffung und Bewertung von Informationen zuständig sind. Dazu gehören die Hochkommissarin für Menschenrechte, welche Anhaltspunkte für russische Kriegsverbrechen dokumentiert, die Hohe Vertreterin für Abrüstungsfragen, die das russische Argument eines biologischen Waffenprogramms der Ukraine entkräftet hat, und der Internationale Gerichtshof, welcher das russische Argument eines ukrainischen Genozids zurückgewiesen hat.

Die Vereinten Nationen können Kriege nicht verhindern. Sie leisten jedoch einen unabdingbaren Beitrag zur humanitären Abfederung der Konsequenzen und ermöglichen mit ihrem institutionellen Netzwerk eine Aufarbeitung der Konflikte. Ob ihnen bei Friedensverhandlungen oder zur anschließenden Friedenssicherung eine noch größere Rolle zukommen mag, bleibt abzuwarten. Viel hängt hier auch von der Autorität des UN-Generalsekretärs ab.