Text: Sebastian Hollstein
Glasschmelze im Garten
Um die richtige stoffliche Zusammensetzung für optische Gläser zu finden, blieb zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur eine Methode: ausprobieren. Deshalb richtete sich Friedrich Körner – kurz nachdem er 1816 eine Stelle als Universitätsmechanikus in Jena angetreten hatte – neben seinem Wohnhaus in der Grietgasse 10 eine kleine Glasschmelze ein, finanziert vom Großherzog Carl August persönlich.
Hier wollte er Flintglas herstellen, das sich aufgrund seiner optischen Eigenschaften gut für Okulare oder Fernrohre eignet und zu dieser Zeit in der Regel aus England eingeführt wurde. Dafür probierte er verschiedene Ofenkonstruktionen aus. Anschließend produzierte Körner in verschiedenen, durchaus vielbeachteten Versuchen zwar mehrere hundert Kilogramm Glas, doch das Material war nicht zufriedenstellend. Meist wies es eine farbige Trübung auf; ein weiteres, mit dem Körner eigentlich zufrieden war, fiel durch die Qualitätskontrolle von Joseph von Fraunhofer, dem damals angesehensten Experten in diesem Bereich.
Um die Versuche voranzubringen, stellte der Großherzog Körner den Jenaer Professor Johann Wolfgang Döbereiner an die Seite. Der Chemiker konzentrierte sich vor allem auf die Stöchiometrie, also auf das korrekte Verhältnis aller Bestandteile. Die Zusammenarbeit war erfolgreich: So gelang dem Team beispielsweise 1828 die Herstellung von Barytglas. Eine Zeitschrift berichtete, dass es »klarer, härter, specifisch schwerer, und von einer stärkeren lichtbrechenden Kraft, als das beste Kronglas ist«.
Optiken berechnen
Körner legte nicht nur als Wissenschaftler den Grundstein für die Jenaer Glastradition, sondern auch als Lehrer eines später berühmten Schülers: 1834 begann der damals 18-jährige Carl Friedrich Zeiss eine vierjährige Ausbildung beim Privatdozenten Körner. Zeiss gründete 1846 schließlich eine eigene Werkstatt, die bereits ein Jahr später die ersten Mikroskope verließen.
Zeiss begann sich intensiv mit den wissenschaftlichen Grundlagen von Mathematik und Optik zu befassen, weil er Linsensysteme nicht mehr durch Pröbeln, also das Ausprobieren von verschiedenen Linsenkombinationen, sondern durch Berechnungen herstellen wollte. Neben den eigenen Studien baute er dabei vor allem auf die Expertise eines 24 Jahre jüngeren Wissenschaftlers: Ernst Abbe. Dieser hatte sich 1863 an der Universität Jena habilitiert und seitdem als Privatdozent und freier wissenschaftlicher Mitarbeiter in Zeiss‘ Werkstatt gearbeitet. 1870 wurde er Professor an der Universität Jena.
Seine Forschungen – allen voran seine Theorie der mikroskopischen Abbildung – führten schließlich zum Ziel: Ab 1872 verkaufte Zeiss die ersten Mikroskope, deren Optiken auf Berechnungen beruhten und die in ihrer Leistungsfähigkeit von keinem Konkurrenzprodukt übertroffen wurden. Um die Herstellung der Geräte weiter voranzubringen, fehlte nun nur noch der entsprechende Produzent optischer Gläser, die den hohen Ansprüchen genügten.
»Schott & Genossen«
Die Glasforschung in Jena ist untrennbar mit einem weiteren Namen verbunden: Friedrich Otto Schott. Dem 1851 in Witten Geborenen war die Faszination für das transparente Zerbrechliche geradezu in die Wiege gelegt. Sein Großvater war Glaser, sein Vater betrieb ab 1853 eine Tafelglashütte. Kein Wunder also, dass Otto Schott in Aachen ein Studium der Chemie wählte, das er in Leipzig auf Glas fokussierte und schließlich mit seiner Dissertation »Beiträge zur Theorie und Praxis der Glasfabrikation« 1875 in Jena abschloss.
Wichtiger für den Glasstandort Jena war allerdings ein anderes, weit weniger umfangreiches schriftliches Zeugnis: Am 27. Mai 1879 wandte sich Otto Schott per Brief an Ernst Abbe, um ihm mitzuteilen, dass es ihm gelungen sei, ein Glas herzustellen, in das »eine beträchtliche Menge Lithium eingeführt wurde«. »Ich vermuthe, dass bezeichnetes Glas nach irgend einer Richtung hervorragende optische Eigenschaften aufweisen wird und wollte mir hierdurch erlauben bei Ihnen anzufragen, ob Sie bereit sind dasselbe zu prüfen oder von einem Ihrer Practicanten auf Brechungs- und Zerstreuungs-Verhältnisse in soweit untersuchen zu lassen als sich daraus ergibt, ob meine obige Vermuthung zutrifft. Durch Ihre Verbindungen mit dem dortigen Zeiss’schen optischen Institut wird es Ihnen ein Leichtes sein die nöthigen Schleifarbeiten am Glase ohne eigene Mühe vornehmen zu lassen.«
Auch wenn Abbe und Zeiss mit dem mitgeschickten Material noch nicht viel anfangen konnten, so erkannten sie doch das Potenzial des jungen Glasmachers. Vor allem, dass es Schott gelungen war, die Schmelzproben in kleinen Tiegeln herzustellen, imponierte ihnen. Sie bauten 1883 mit ihm eine »Glastechnische Versuchsstation« in Jena auf, aus der ein Jahr später das »Glastechnische Laboratorium Schott & Genossen« wurde – und das sich schnell zum zuverlässigen Lieferanten optischer Gläser entwickelte.
Die Neuerfindung des Glases
In dem neu gegründeten Unternehmen machte Otto Schott drei Jahre später eine bahnbrechende Erfindung, durch die Glas heute aus den Naturwissenschaften und aus technischen Anwendungen nicht mehr wegzudenken ist. Chemikalien und sogar Wasser griffen die bisher etablierten Glastypen Kalknatron- und Bleiglas an. Zudem gingen sie durch zu hohe Hitze und zu schnelle Temperaturwechsel häufig zu Bruch. Experimentelle Untersuchungen im Labor erforderten also neues Material – das Schott lieferte.
Er fügte dem klassischen Glasbestandteil Siliziumoxid Boroxid hinzu und behob so die Schwachstellen der anderen Glastypen. Schnell setzte sich Borosilikatglas auf dem Markt durch: Zunächst produzierte das Unternehmen ab 1891 Thermometerglas aus dem neuen Werkstoff, zwei Jahre später wurden die ersten Laborgefäße, wie Bechergläser oder Erlenmeyerkolben, verkauft. Glaszylinder für Gaslampen erweiterten das Sortiment zusätzlich.
Durch unterschiedliche Variationen der Zusammensetzung vergrößerte sich die Angebotspalette stetig, bis hin zum Haushaltsglas – dem berühmten Jenaer Glas, das Schott ab den 1920er Jahren produzierte. Noch heute findet Borosilikatglas vielfältige Anwendungen. In Form von besonders dünnen Floatgläsern wird es sogar in den Optiken von Weltraumteleskopen verbaut.
Phasentrennung in Gläsern
Die Entwicklung der Elektronenmikroskopie bot Glaschemikerinnen und -chemikern weltweit neue Möglichkeiten für die tiefgreifende Erforschung der Glasstruktur – auch in Jena. Ab 1955 führte Werner Vogel im Glaswerk Schott & Gen. mit diesem Instrument umfangreiche wegweisende Untersuchungsreihen an Berylliumfluoridgläsern durch, um dem Phänomen der Phasentrennung im Glas, das bereits Otto Schott beobachtet hatte, genauer auf den Grund zu gehen.
Denn anders als gemeinhin vermutet, mischen sich Glasbestandteile nicht zwangsläufig zu einem homogenen Material, sondern können während der Herstellung mikroheterogene Bereiche herausbilden, die – wie Vogel durch seine Untersuchungen zeigte – etwa die Form von winzigen Tröpfchen einnehmen und mit bloßem Auge als Eintrübung wahrgenommen werden können. Dachte man noch zu Beginn der 1960er Jahre, dass diese Entmischungserscheinungen Ausnahmen seien, die möglicherweise sogar auf die Mikroskopie selbst zurückzuführen seien, so hat sich die Phasentrennung in Glas in der Folge als einer der wichtigsten Forschungszweige in diesem Bereich etabliert.
Werner Vogel, der von 1969 bis 1990 an der Uni Jena forschte und lehrte, erlangte durch diese Arbeiten internationale Anerkennung. Seine Forschung bereitete den Weg für die Entwicklung neuer optischer und technischer Gläser.