Obwohl die Corona-Pandemie noch immer nicht vorbei ist, wurden Anfang April Maßnahmen zum Infektionsschutz an Universitäten und Schulen weitgehend aufgehoben. Aus Sicht der Lernenden zu recht, findet Prof. Dr. Alexander Gröschner. Der Professor für Schulpädagogik und Unterrichtsforschung zeigt auf, wie die sozialen Beziehungen und Interaktionen unter dem (bloßen) digitalen Austausch leiden. Denn Lernen sei nicht nur ein individueller, sondern auch ein zutiefst sozialer Prozess.
Zwischen »Digitalisierungseuphorie« und »Distanzlernmüdigkeit«
Distanzlernen, so zeigt eine unserer Studien, führt besonders im schulischen Kontext zu einer Zunahme emotionaler Ängste (z. B. verursacht durch die verminderte Unterstützung durch Lehrpersonen) sowie eine Verschärfung des sozialen Ungleichgewichts (z. B. durch fehlende technische Ausstattung). Damit verstärkt sich ein Zustand, der das deutsche Bildungssystem seit etlichen Jahren prägt. Aktuelle Studien im Universitätskontext kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: Auch hier hat die digitale Lehre zu einer Zunahme des Stresserlebens geführt und es zeigen sich signifikante Zusammenhänge zwischen den wahrgenommenen Studienbedingungen und depressiven Symptomen von Studierenden.
Lernen ist per definitionem ein aktiver, konstruktiver und individueller Prozess. Umso überraschter waren Lehrende in der Corona-Pandemie, wenn Studierende, die im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern über vermeintlich mehr Eigenverantwortung, Selbstregulation und intrinsische Motivation verfügen (sollten), mit dem neuen Lehralltag und den Freiheiten des virtuellen Lernens vom Schreibtisch in zunehmendem Maße nichts mehr anfangen können und wollen.
Zugleich haben die Umstände des Distanzlernangebots einen Digitalisierungsschub im sonst innovationstrüben Schulbetrieb des föderalen Bildungswesens möglich gemacht, wie ihn viele nicht erwartet hätten. Das zeigen eindrucksvoll u. a. die Preisträgerschulen des renommierten »Deutschen Schulpreis Spezial 2021«, die mit klugen Ideen und eindrucksvollen Maßnahmen lernförderliche Bildungsangebote für Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen und Schulformen unterbreitet haben.
Auch in der Hochschullehre haben neue Technologien, z. B. der Einsatz von Augmented und Virtual Realities in unseren Lehr-Lern-Laboren, neue Wege des Wissenserwerbs eröffnet. Der virtuelle Austausch, z. B. mit den Studierenden in den Begleitveranstaltungen des Praxissemesters im Lehramtsstudium, hat innovative Formate des kollaborativen Lernens über die Distanz möglich gemacht.
Die aktuellen Lockerungen dürfen nicht den Umstand übersehen, dass die Corona-Schutzmaßnahmen insgesamt wichtig sind und eine umsichtige Handhabung noch für eine ganze Weile bedeutsam bleibt. Für den Schul- wie Universitätsbetrieb zeigt sich allerdings mittlerweile deutlich, dass Lernen eben nicht nur ein individueller, sondern auch ein zutiefst sozialer Prozess ist. Nicht nur eine gute technologische Ausstattung zählt für den gelungenen Austausch, sondern es braucht neben dem virtuellen Raum auch den physischen Raum für Austausch und Dialog in Präsenz sowie den sozialen Kontakt vor und nach einer Lehrveranstaltung.
Was bleibt? Der Wunsch nach Binnendifferenzierung und lernförderlichen Interaktionen
Wenn für alle Schülerinnen, Schüler und Studierenden die bestmöglichen Bildungschancen gegeben sein sollen, dann benötigen wir einen zunehmend differenzierten Blick auf die Gestaltung des Lehr- und Unterrichtsalltags. Im »Rucksack« bieten uns die neuen Technologien Möglichkeiten, u. a. das individuelle Lerntempo von Studierenden zu berücksichtigen, Unterstützungsformate, Feedbacksysteme und formative Leistungsrückmeldungen anzubieten.
In Zukunft sollte Lehren und Lernen deshalb ein differenzierteres Angebot aus synchronen und asynchronen Lerngelegenheiten, in Präsenz und virtuell, umfassen. Entscheidend ist dafür, dass Lehrende ihr Lehrangebot zielklar planen und dabei individuelle Voraussetzungen der Studierenden mit im Blick behalten. Viel zu oft betrachten wir Lernende noch als eine »homogene« Gruppe, mit gleichen Stärken und Schwächen.
Als Perspektive bleibt ein Wunsch, wie lernförderliche Interaktionen im universitären Alltag ihren Anfang nehmen sollten. So schrieb Jürgen Habermas in einem 1986 in der Zeitschrift für Pädagogik erschienenen Aufsatz über universitäre Lernprozesse: »Die Türen stehen offen, in jedem Augenblick kann ein neues Gesicht auftauchen, ein neuer Gedanke unerwartet eintreten.« Dieser kreative Anfang des Lehr-Lern-Prozesses möge zurückkehren, wenn zugleich Vieles vom Neuen bleiben darf.