Text: Stephan Laudien
Das »Imre Kertész Kolleg« hat mit dem jüngst herausgegebenen Band »Violence« das vierbändige Handbuch der Geschichte des östlichen Europas im 20. Jahrhundert abgeschlossen.
Der Band untersucht zum einen die Gewalt, die durch kriegshungrige Mächte und totalitäre Regime im 20. Jahrhundert auf die Gesellschaften des östlichen Europas ausgeübt wurde. Zum anderen nimmt es die Gewalt in den Blick, die durch Konflikte zwischen ethnischen, sozialen und nationalen Gruppen entstanden ist, und die Interaktion beider Phänomene.
»Angesichts des Krieges in der Ukraine ist es eine Ironie der Geschichte, dass der abschließende Band der Reihe ausgerechnet die Gewaltgeschichte des östlichen Europas zum Inhalt hat«, sagt Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, der Direktor des »Imre Kertész Kollegs«.
Untersucht wurden die Gewalterfahrungen durch die Kriege auf dem Balkan, die 1912 begannen und erst mit den Jugoslawienkriegen 1992 bis 1995 endeten, sowie die Geschichte der beiden Weltkriege, die insbesondere im östlichen Europa tobten.
Ein weiterer Aspekt des neuen Bandes sei es, danach zu fragen, wie diese Gewalterfahrungen nach 1945 weiterwirkten, sagt von Puttkamer. Vereinfacht gesagt, lasse sich eine allmähliche Veränderung der Gewalterfahrung konstatieren: von brutaler Gewalt hin zu subtileren Methoden, die dennoch das Selbstzerstörungspotenzial von Gewalt aufzeigen.
Das Kapitel über Polen und Rumänien geriet zudem zum Vermächtnis von Wlodzimierz Borodziej. Der zweite Direktor des Kollegs verstarb 2021.
Buchreihe bündelt Forschungsarbeit aus zwölf Jahren
»The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century« krönt die Arbeit des Kollegs, das seit zwölf Jahren besteht. Die vier Bände nehmen den gesamten Staatengürtel zwischen Deutschland und Russland in den Blick, vom Baltikum bis Bulgarien. Dabei werden größere Länder wie Polen, die ehemalige Tschechoslowakei, Rumänien und das einstige Jugoslawien etwas ausführlicher behandelt.
Der Band »Challenges of Modernity« untersucht den tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel hin von den Agrargesellschaften an der europäischen Peripherie über die staatssozialistische Industrialisierung zu den Transformationsgesellschaften der Gegenwart. Der Band »Statehood« fragt nach den imperialen und nationalstaatlichen, demokratischen und diktatorischen Traditionen in einem Jahrhundert, in dem staatliche Institutionen auch hier weit in den Lebensalltag der Menschen vorgedrungen sind. Im Band »Intellectual Horizons« stehen Geschichtsbilder und Identitäten, Literatur und Kultur im Mittelpunkt.
Die Beiträge betrachten in länderübergreifender und vergleichender Weise Schlüssellinien der Entwicklung, was zu einem tiefgreifenden Verständnis der Region führt. Die Handbücher bieten einen umfassenden Überblick über die Geschichte einer Region, die von der Beherrschung durch Imperien vor dem ersten Weltkrieg über den langen Schatten deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg und anschließend den Erfahrungen des Staatssozialismus bis hin zur Transformation und in weiten Teilen zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union im späten 20. Jahrhundert geht.
Geschrieben von einer ganzen Reihe renommierter, internationaler Autorinnen und Autoren, viele selbst aus der Region kommend, werden die Handbücher das Standardwerk für Geschichte Mittel-, Ost- und Südosteuropas im 20. Jahrhundert sein.
Auch nach Abschluss des Projekts wird die Arbeit des Kollegs fortgeführt, versichert Prof. von Puttkamer. Gerade angesichts des Krieges in der Ukraine werde die Osteuropa-Expertise dringend gebraucht. Dabei kann das Kolleg auf sein stabiles Netzwerk von internationalen Expertinnen und Experten bauen – allein knapp 170 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiteten als Fellows am Kolleg.
Original-Publikation:
The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century, Vol. 1-4, Taylor & Francis Group, London/New York 2022