Bioaktive Gläser bilden im menschlichen Körper eine Oberfläche aus Apatit, an der körpereigene Knochenzel-len anwachsen können.

Ein echter Knochenjob

Warum Glas so gut für die Regeneration von menschlichem Gewebe geeignet ist.
Bioaktive Gläser bilden im menschlichen Körper eine Oberfläche aus Apatit, an der körpereigene Knochenzel-len anwachsen können.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Gläser kommen nach einiger Zeit oftmals getrübt aus der Spülmaschine. Grund dafür ist meist nicht etwa das Ablagern von Kalkresten, sondern Korrosion. Das heißt, der Kontakt mit Wasser und Reinigungsmitteln und die damit verbundenen chemischen und physikalischen Prozesse rauen die Oberfläche auf und verändern die Struktur des Materials. Vereinfacht gesagt: Das Glas beginnt, sich aufzulösen. So störend dieser Vorgang im Haushalt ist, so interessant ist er für andere Anwendungen von Glas – sogar im menschlichen Körper.

Text: Sebastian Hollstein


Glas besteht in der Regel aus Silikaten. Doch würde bei seiner Herstellung reines Siliziumdioxid zum Einsatz kommen, dann wäre die Verarbeitung nur bei sehr hohen Temperaturen möglich und somit sehr aufwendig. Deshalb integriert man in das robuste Silikatnetzwerk Metalloxide, etwa Kalzium- oder Natriumoxid. Das vereinfacht den Herstellungsprozess – reduziert allerdings die Beständigkeit. Denn das Glas reagiert dadurch stärker mit Wasser.

Doch diese gesteigerte Löslichkeit muss kein Nachteil sein. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten beispielsweise seit rund 50 Jahren mit sogenannten bioaktiven Gläsern und entwickeln Anwendungen dafür im medizinischen Bereich – etwa bei der Reparatur von Knochenschäden. Damals war Glas das erste synthetische Material, das einen festen Verbund mit menschlichem Gewebe eingehen konnte.

 

Prof. Dr. Delia Brauer entwickelt mit ihrem Team u. a. lösliche Glas­implantate, die helfen, Knochen nach einer Operation wieder zu regenerieren.

Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Körpereigene Knochenzellen wachsen auf Glasimplantat

»Reagieren Körperflüssigkeiten mit gezielt dafür gestaltetem bioaktiven Glas, dann werden dabei Kalzium- sowie Phosphationen herausgelöst«, erklärt Prof. Dr. Delia Brauer, Professorin für dieses besondere Material an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und eine der weltweit renommiertesten Expertinnen auf diesem Gebiet.

»Dabei entsteht auf der Oberfläche des Glases durch einen chemischen Prozess Apatit, also das Mineral, das den Grundbaustein für Knochen darstellt. An diese Schicht docken körpereigene Knochenzellen an und bilden neues Gewebe.«

Alle Stoffe, aus denen das Glas besteht, sind auch Teil des menschlichen Körpers, und besonders die gebildete Oberfläche aus Apatit sorgt dafür, dass das Glas nicht als Fremdkörper wahrgenommen wird. Zusätzlich fördern gelöste Silikatbausteine den Heilungsprozess, da sie die Knochenbildung anregen.

Hat das Implantat seine Funktion erfüllt, wird es nach und nach abgebaut, bis es vollständig verschwunden ist. Wie lange das dauert, lässt sich über die Zusammensetzung des Glases genau einstellen.

Lösliche Glasimplantate kommen vor allem dann zum Einsatz, wenn Schadstellen am Knochen wieder geschlossen werden müssen, etwa nach einer Krebs­erkrankung und der Beseitigung einer Zyste. Meist bringen Ärztinnen und Ärzte das Glas in Form von Granulat oder Gel in den Knochen ein.

Darüber hinaus verbessern Brauer und ihr Team aktuell das Design und die mechanische Stabilität von porösen dreidimensionalen Körpern, die ebenfalls als Gerüst für neu entstehendes Knochengewebe dienen sollen.

»Glas ist sicher nicht das erste Material, das einem einfällt, wenn es um die Regeneration von menschlichem Gewebe geht – und doch ist es aufgrund seiner variablen Zusammensetzung hervorragend dazu geeignet«, sagt die Chemikerin. »Genau das macht es so spannend.« Der Einsatz bioaktiver Gläser als Implantat sei inzwischen zwar etabliert, doch Brauer und ihr Team arbeiten an immer neuen Optimierungsmöglichkeiten.

Gegenüber ähnlichen Implantatmaterialien wie beispielsweise Keramik hat Glas den Vorteil, dass sich sehr flexibel weitere Komponenten hinzufügen lassen. Integrierte Silberionen etwa können Implantate zusätzlich antibakteriell gestalten und so Entzündungen verhindern und die Einnahme von Antibiotika vermeiden.

Mundhygiene mit Glas

Neben Knochen sind Zähne ein Anwendungsgebiet von bioaktivem Glas. Delia Brauer war beispielsweise an der Entwicklung einer Zahncreme beteiligt, in der Bioglaspartikel enthalten sind. Diese lagern sich an den Zähnen an, so dass sie bei der Zahnreinigung nicht weggespült werden. Durch den Kontakt mit Speichel setzen sie schließlich Kalzium-, Fluorid- und Phosphationen frei, was die Bildung von Apatit – auch der Hauptbestandteil von Zahnschmelz – anregt.

Erst kürzlich holten Forschende des Londoner King‘s College die Expertise der Jenaer Glasexpertin ein. »Die englischen Kolleginnen und Kollegen hatten herausgefunden, dass Lithiumionen die Mineralisation von Dentin – auch Zahnbein genannt – fördern. Nun suchten sie nach einer wirkungsvollen Methode, Lithium gezielt einzubringen, um es kontrolliert und kontinuierlich freizusetzen«, erzählt Brauer. »Gemeinsam haben wir dafür ein inzwischen patentiertes Zementsystem entwickelt, das auf einem lithiumhaltigen Bioglas basiert.«

Neben solchen anwendungsbezogenen Materialentwicklungen konzentriert sich Delia Brauer in ihrer Forschung vor allem darauf, das bioaktive Glas und seine Verarbeitung besser zu verstehen. Denn noch immer sind dabei viele Fragen offen. »Bioaktive Gläser fangen während der Schmelze schneller an zu kristallisieren als andere Gläser. Das schränkt die Verarbeitungsmöglichkeiten ein«, sagt sie.

Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von der Universität Erlangen-Nürnberg sowie dem Fraunhofer-Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen in Halle/Saale beobachtet sie deshalb derzeit den Kristallisationsprozess auf Nanometer-Ebene, um ihn verstehen und vermeiden zu können. Diese Grundlagenforschung bereitet die Basis für viele weitere Anwendungen von Bioglas.