Das Jahr 2022 ist von den Vereinten Nationen (UN) zum Internationalen Jahr des Glases ausgerufen worden. An der zentralen Organisation dieses Themenjahres ist auch der Jenaer Glaschemiker Prof. Dr. Lothar Wondraczek beteiligt. Im Interview erläutert er, warum der jahrtausendealte Werkstoff mehr Aufmerksamkeit verdient und wie uns Glas helfen kann, nachhaltiger zu leben.
Interview: Ute Schönfelder
Herr Wondraczek, warum haben die UN ein internationales Jahr für den Werkstoff Glas ausgerufen?
Ein Gedanke dahinter ist sicher, die Wahrnehmung dafür zu schärfen, wie bedeutend Gläser kulturhistorisch für uns sind. Innovationen aus Glas haben die Menschheit immer wieder entscheidend vorangebracht: angefangen von den ersten Werkzeugen aus Obsidian, über Glasgefäße, in denen man Lebensmittel aufbewahren konnte, Fensterglas, das es erstmals möglich machte, es im Inneren von Wohngebäuden hell und gleichzeitig warm zu haben. Das sind Erfindungen, die das Leben der Menschen fundamental verändert haben.
Hinzu kommen Entdeckungen, die dank Mikroskopen oder Teleskopen, in denen Glasoptiken vorkommen, gemacht wurden. Und nicht zuletzt bestehen heutige Datennetze, unsere Kommunikationswege, das Internet, letztlich aus Glasfasern. Man kann also durchaus sagen, dass wir in einem Zeitalter des Glases leben; ohne Glas wären viele alltägliche Dinge für uns in dieser Form nicht möglich – und doch ist dies vielen Menschen kaum bewusst. Das will das Themenjahr ändern.
Was ist denn überhaupt so besonders am Material Glas?
Eigentlich alles und nichts. Glas stellt – neben Kristallen – einen der beiden wichtigsten Zustände dar, die Festkörper einnehmen können. Dabei ist die Vielfalt glasartiger Materialien praktisch unendlich: Über die uns ständig umgebenden Fensterscheiben, Flaschen und Mobiltelefone hinaus umspannen Gläser alle Materialklassen, chemischen Zusammensetzungen und daraus resultierende Eigenschaften.
Besonders macht sie die Art, wie ihre innere Struktur aufgebaut ist, d. h., wie die Atome, aus denen sie bestehen, zu einem räumlichen Netzwerk angeordnet sind. Diese unterscheidet sie ganz grundsätzlich von Kristallen. Gläser entstehen aus einer Flüssigkeit, die während eines Abkühlungsprozesses immer zähflüssiger wird. Irgendwann wird so ein Punkt erreicht, bei dem keine wahrnehmbare Bewegung mehr möglich ist. Ab diesem Zeitpunkt sprechen wir dann von einem Glas: eine eingefrorene, unterkühlte Flüssigkeit. Dieser Materiezustand beinhaltet zahlreiche faszinierende, teils sogar metaphorische Aspekte: Unordnung, Ungleichgewicht, Chaos, Unendlichkeit, das Wechselspiel zwischen Festigkeit und Härte auf der einen Seite, Transparenz und (Licht-)Durchlässigkeit auf der anderen.
Glas wird schon seit Jahrtausenden hergestellt und vielfältig genutzt. Was gibt es heute noch Neues daran zu entdecken?
Es gibt tatsächlich überraschend viele offene Fragen. Da ist zuerst die Frage nach der grundlegenden Natur des Glases. Warum bilden sich Gläser überhaupt? Warum sind sie fest? In welcher Weise lässt sich strukturelle Unordnung und Dynamik beschreiben, so dass daraus – wie bei Kristallen seit langem etabliert – Eigenschaften vorhergesagt werden können? Das sind Fragen der Grundlagenforschung, auf die wir bisher noch keine Antwort haben.
Auf der anderen Seite steht die gesellschaftliche Bedeutung von Glaswerkstoffen. Viele Gläser sind Massenprodukte, die energieintensiv, aber mit sehr hohem Durchsatz hergestellt werden. Gläser sind in nahezu idealer Weise an zukünftige Kreislaufwirtschaften angepasst; sie versprechen das Urbild der Recyclingfähigkeit. Andererseits lernen wir nicht erst seit den letzten Wochen, dass die Glastechnologie ganz neue Denkweisen erfordert, was Energieeinsatz und CO2-neutrale Produktion, aber auch Fragen der Rohstoffe und der Produktgestaltung angeht.
Das Internationale Jahr des Glases macht darauf aufmerksam, dass Glas entscheidend zur Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele beiträgt (siehe Infokasten). Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Das lässt sich am Beispiel Recycling zeigen. Behälterglas zum Beispiel wird heute zu mehr als 90 Prozent aus recyceltem Glas hergestellt. Und selbst das ließe sich bei entsprechend angepassten Fabrikationstechnologien noch steigern.
Weitere Beispiele finden wir im Gebäudesektor, der immerhin einer der größten CO2-Emittenten Europas ist. Hier leisten moderne Glaswerkstoffe als Isolations- und Dämmmaterialien, Mehrfachverglasungen bis hin zu sogenannten »Smart Windows« einen ganz entscheidenden Beitrag zur Erreichung unserer Klimaziele. Interessanterweise können und sollen sie auch nicht substituiert werden. Sie dienen stattdessen selbst zur Substitution weniger nachhaltiger Materialien. So könnten zukünftige Wohnhäuser zu einem sehr viel größeren Anteil aus vollständig recyclingfähigem Glas (in Form von Verscheibungen und Dämmstoffen) und Holz bestehen.
Hat Glas eigentlich auch Nachteile?
Wenn wir beim Thema Nachhaltigkeit bleiben, ist das vergleichsweise hohe Gewicht von Glas sicher kritisch. Glasflaschen sind schwer, was sich erheblich auf die Energiebilanz auswirken kann. Daneben steht die sprichwörtliche Zerbrechlichkeit von Glas, deren Überwindung auch zukünftig viel Forschungs- und Entwicklungsarbeit erfordern wird.
Ganz grundlegend gibt es natürlich auch Eigenschaften, die unmittelbar aus der Natur des Glases und der strukturellen Unordnung resultieren. Diese kann – im Vergleich zu kristallinen Werkstoffen – zum Beispiel für optische Eigenschaften von Nachteil sein, hier v. a. die sogenannte optische Aktivität. Ausgleichen lässt sich dies teilweise, indem Glas in Form langer Fasern hergestellt wird, die in optischen Anwendungen dann eine höhere Wechselwirkungslänge zwischen Licht und Material ermöglichen.
Gibt es Lebensbereiche, wo Glas vorkommt, man es aber gar nicht so leicht bemerkt?
Ja, durchaus. Zum Beispiel ist die schon erwähnte PET-Flasche streng genommen auch aus Glas. Auch dieser Kunststoff ist eine eingefrorene, unterkühlte Flüssigkeit. Aber auch in Kosmetika, Zahncremes und vielen Haushaltsprodukten finden sich feinste Glaspartikel, und selbst Trinkwasser kann mit diesen versetzt werden, um Leitungen freizuhalten. Zudem sind in jedem Schaltkreis, in jedem elektrischen Bauteil heute auch Glaskomponenten enthalten.
Welche Rolle spielt der Standort Jena für die Glasforschung und das internationale Glasjahr?
Jena ist eines der weltweiten Zentren der akademischen Glasforschung, nicht nur mit der Universität, sondern auch dank der vielen benachbarten Forschungseinrichtungen auf dem Feld der Optik und Photonik. Hinzu kommen eine ganze Reihe von unterschiedlich großen Einrichtungen der forschenden Industrie.
Im Rahmen des Internationalen Jahres sind Jenaer Forscherinnen und Forscher in zahlreiche Aktivitäten eingebunden: angefangen vom Programmentwurf für die Eröffnungszeremonie bei den Vereinten Nationen in Genf über die Koordination des weltgrößten Glaskongresses in Berlin bis zur Beteiligung an der Abschlussveranstaltung in Tokio.
Gerade haben wir ein Nachwuchsprogramm gestartet, in dem junge Forschende als »Glass Future Fellows« gefördert werden. Rund 70 Prozent von ihnen sind junge Frauen. Im Herbst planen wir das 10. Otto-Schott-Kolloquium, eine hochrangige wissenschaftliche Tagung an unserer Universität mit Gästen aus der ganzen Welt. Zudem versuchen wir, über öffentliche Zusammenarbeit und Veranstaltungen in Kooperation mit Schulen und Museen, das Thema Glas in die breite Öffentlichkeit zu tragen.
Welche Fragen wollen Sie selbst in Bezug auf das Material Glas mit Ihrer Arbeit klären?
Die Forschung meiner Arbeitsgruppe betrifft eigentlich drei Kernthemen. Das sind erstens die mechanischen Eigenschaften von Glaswerkstoffen, also z. B. die Frage, wie man Glas dünner machen kann und es trotzdem mechanisch resistent bleibt. Daneben beschäftigen wir uns mit dem gezielten Einstellen bestimmter optischer Eigenschaften von Glas, wie dem Lichtbrechungsverhalten oder der optischen Aktivität z. B. in Form von Fluoreszenz. Verbindend steht unser drittes Arbeitsfeld, nämlich die Suche nach neuen und ungewöhnlichen Wegen der Glasherstellung. Dies können Gasphasen- oder lösungsbasierte Ansätze sein, aber auch Hochdrucksynthese oder alternative Schmelzverfahren, mit denen nicht nur neuartige Glaswerkstoffe, sondern zukünftig vielleicht auch energieeffizientere oder nachhaltigere Technologien ermöglicht werden.