Dr. Helmut Hühn in der Ernst-Abbe-Veranda von Schillers Gartenhaus in Jena.

Wir müssen unsere eigene Denkgeschichte kennen und erkennen«

Der Leiter von Schillers Gartenhaus Helmut Hühn über die Bedeutung romantischer Gedenk-Orte.
Dr. Helmut Hühn in der Ernst-Abbe-Veranda von Schillers Gartenhaus in Jena.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

An vielen Orten der Universität ist der Geist der Zeit um 1800 noch immer erlebbar. Touristinnen und Touristen aus aller Welt wandeln auf den Spuren der Vergangenheit. Gäste aus dem In- und Ausland kommen hierher, um das Lebens- und Arbeitsumfeld der damaligen Protagonistinnen und Protagonisten kennenzulernen. Einer, dem sie dabei häufig begegnen, ist Dr. Helmut Hühn. Als Leiter von Schillers Gartenhaus, der Goethe-Gedenkstätte, die derzeit zu einem »Laboratorium« umgestaltet wird, sowie als Mitgründer und -leiter der Forschungsstelle Europäische Romantik ist er auf vielfältige Weise mit der Erforschung und Vermittlung von Ideen, wie sie um 1800 entstanden sind, verbunden. Im Interview erklärt er, warum Schillers Gartenhaus auch ein romantischer Ort ist, warum wir heute noch aus früheren Konflikten lernen können und wie es ihm gelingt, die Gedankenwelt von Schiller, Goethe und Co zu vermitteln.

Interview: Sebastian Hollstein


Warum si
nd Orte wie Schillers Gartenhaus in Jena so wichtig, um sich der Romantik anzunähern?

Schiller ist von einem leidenschaftlichen Glauben an die humanisierende und soziale Funktion der Kunst bewegt. Sein Programm einer »ästhetischen Erziehung« gibt der romantischen Agenda wesentliche Impulse. Die Frühromantiker versuchen, die moderne Welt zu reflektieren und ihre Wunden zu heilen. Im kritischen Bezug auf die eigene Gegenwart sind sie in ihrem Denken wie in ihrem Tun darauf gerichtet, die Einheit des Menschen mit sich selbst, mit den anderen und mit der Natur (wieder)herzustellen. Jeder Mensch soll ein ganzer Mensch sein und seine einzigartige Individualität verwirklichen. Sie setzen sich für eine Gesellschaft ein, die auf Liebe und Zusammenarbeit beruht und nicht von Spaltungen, Egoismen und Konkurrenzen zerrissen wird.

An Orten wie Schillers Jenaer Gartenhaus lernen wir, uns zwischen den Zeiten zu bewegen, nicht nur Genossen unserer eigenen Gegenwart zu sein. Wir fragen, wie Schiller hier mit seiner Familie gelebt hat, wie er seinen Alltag und seine Arbeit strukturiert, seine Umgebung gestaltet hat. Wir lesen die Briefe, die er geschrieben und erhalten hat, schauen in seinen Kalender und in Goe­thes Tagebuch und entdecken dabei, was er hier in den Sommermonaten der Jahre 1797 bis 1799 gedacht und gedichtet hat. Die Atmosphäre eines solchen Ortes mit seinen sinnlich wahrnehmbaren historischen Schichten entfaltet eine ganz besondere Produktivität. Es ist ein Vorzug des Studienortes Jena, dass man hier solche historischen Orte besuchen kann: Sie geben Raum zur Besinnung, zur Begegnung und zum Austausch, für lebendige und kreative Gespräche. Dort drüben (zeigt auf die Bank vor Schillers »Gartenzinne«) sind auch einige Dissertationsprojekte entstanden.

Als zentrale Institution haben Sie 2010 die »Forschungsstelle Europäische Romantik« mitgegründet. Welche Idee liegt ihr zugrunde?

Durch die Gründung der Forschungsstelle konnten wir die Arbeit des Sonderforschungsbereichs »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« im kleineren Maßstab fortführen und die Romantikforschung in Jena verstetigen. Unser Ziel war es, die Forschung weiter zu internationalisieren unter besonderer Berücksichtigung von europäischen Austauschbeziehungen und Verflechtungen. Sie sollte zudem stärker interdisziplinär ausgerichtet werden und sich durch die Enthaltsamkeit von vorschnellen Essenzialisierungen ihres Gegenstandes auszeichnen, das heißt von der Konstruktion romantischer »Wesensidentitäten«. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen romantischen Denkens und Darstellens sind auch in der über 200-jährigen konfliktuösen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte unterschiedlich interpretiert worden. Nicht essenzialisieren, sondern historisieren, so lautet eine unserer Ideen.

Wir betrachten in der Forschungsstelle, in Anlehnung an den Historiker Reinhart Koselleck, die Zeit zwischen 1750 und 1850 als eine Phase von Umbrüchen wie Übergängen, aus der die »Moderne« hervorgegangen ist. Im Blick auf die romantischen Bewegungen in Europa untersuchen wir Konstellationen in Kunst, Philosophie, Literatur, Wissenschaft, Religion und Gesellschaft. Auf diese Weise hoffen wir, zu einem besseren Verständnis der Problemgeschichte der Moderne beitragen zu können.

Welche Verbindungen zur Gegenwart stellen Sie dabei her? Warum ist es wichtig, dass wir uns heute noch mit den Romantikern beschäftigen?

Mich interessieren historisch-kulturelle Konflikte und die transgenerationellen Konfliktzusammenhänge im Prozess der Moderne. Ein solcher Konflikt drückt sich beispielsweise in der radikalen Kritik aus, die der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel an den Romantikern, insbesondere an Friedrich Schlegel, übt: Er sieht in Schlegel den Vertreter einer modernen Mentalität, die die über Jahrhunderte errungene Freiheit des Subjekts missversteht, in Willkür verkehrt und sich nicht mehr mit den anderen Subjekten zu vermitteln weiß. Das ironische, das romantische Subjekt versteht sich, so Hegels Kritik, als die alleinige und exklusive Entscheidungsinstanz für Wahrheit, Recht und Pflicht und untergräbt in dieser Weise die Welt rechtlicher Verpflichtungen oder sittlicher Bindungen.

Auch wenn Hegel die Position Schlegels verzeichnet: Sichtbar wird ein gesellschaftlicher und zugleich ein erkenntnis­theoretischer Konflikt, den wir auch heute unter uns beobachten können. Ich will das nicht durch Fallbeispiele aus der Pandemie und von Corona-Leugnern untermauern, aber die Verbindung drängt sich auf. Auch wir fragen, wie subjektive Partikularität und Willkür überwunden, wie Intersubjektivität gelebt werden kann. Moderne Gesellschaften stehen vor der Herausforderung, sich aus sich selbst heraus vernünftig zu begründen. Im Medium der Kommunikation miteinander suchen die Subjekte nach Verfahren der Legitimierung ihrer Ordnungen und ihrer Praxen. Es bedarf einer Öffentlichkeit, in der sich konkurrierende Meinungen zu denselben, jeweils relevanten Fragen bilden können. Schlegel und Hegel experimentieren mit unterschiedlichen Ansätzen einer Legitimierung von Objektivität. Um Ihre Frage klar zu beantworten: Wir beschäftigen uns nicht mit der Romantik, weil wir selbst Romantiker sind oder deren Welt mit der unseren verwechseln. Ohne ein Verständnis der Problemlagen und Konfliktstellungen um 1800 können wir nicht erfassen, wie wir zu den »nachromantischen Subjekten« geworden sind, die wir heute sind. Wir müssen unsere eigene Bewusstseins- und Denkgeschichte kennen und erkennen, um den Herausforderungen der Gegenwart gewachsen zu sein.

Wie gelingt es Ihnen hier vor Ort, die Romantik und ihre Ideen zu vermitteln?

Eine gute Vermittlung, soviel vielleicht vorweg, gründet immer in intensiver Forschung, in dem genauen Blick auf die eigene Gegenwart und deren ungelöste Probleme wie in der dialogischen Offenheit eines Gesprächs, das sich auf den anderen wirklich einlässt. Dass wir den Anspruch haben, die große Zeit unserer Universität um 1800 – philosophisch gesprochen: die Zeit der Spätaufklärung, des Frühkantianismus, der Frühromantik und des Frühidealismus; literatur- und kunstwissenschaftlich gesprochen: die Zeit von Klassizismus und Romantik – in ihren verschiedenen Facetten und in ihrer Bedeutung mit besonderer Kompetenz in Lehre und Forschung zu behandeln, liegt nahe. Das sollte auch unser Bestreben sein. Hinzu kommt der fächerübergreifende kulturelle Transfer, den wir gerade an besonderen Orten wie dem Gartenhaus zu leisten vermögen. Es ist ein weltliterarischer Ort, der jedes Jahr Besucherinnen und Besucher aus aller Welt anlockt, die wir hier willkommen heißen wollen. Hier denken wir auch über die Gegenwart hinaus.

Wie vermittelt man eigentlich solche Inhalte, wenn ein Dichterhaus wie das Gartenhaus für längere Zeit schließen muss?

Durch die Langzeitkatastrophe der Pandemie ist uns noch einmal anders deutlich geworden, wie unersetzbar die persönliche Begegnung in realer Präsenz ist. Im Rahmen des Hölderlin-Jahres 2020 hatten wir Dichterinnen und Dichter zu Lesungen eingeladen und eine internationale Tagung mit Übersetzerinnen und Übersetzern von Hölderlins Gedichten geplant. Nachdem die Pandemie uns einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, haben wir das Vorhaben transformiert. Herausgekommen ist ein Podcast, in dem Menschen – junge wie ältere, Studierende, Forschende sowie Dichterinnen und Dichter – sich mit Hölderlins Werk auseinandersetzen (»Was Hölderlin mir bedeutet«). Die Mitwirkenden lesen einen Text Hölderlins ein und lassen sich von diesem Text zu eigenen Fragen und Gedanken anregen. Das Projekt ist auf große Resonanz gestoßen.

Demnächst wagen wir uns wieder an einen Podcast – diesmal steht Schiller im Mittelpunkt. Was hat die Universität des 21. Jahrhunderts mit ihrem Namensgeber (noch) zu tun? Was verbindet uns in den verschiedenen Fakultäten und in den gegenwärtigen Forschungen der einzelnen Fächer mit Schiller? Das versuchen wir in kleinen »Expeditionen« zu erkunden.