Prof. Dr. Johannes Grave im Gemäldedepot der Kunstsammlung der Universität.

Die neue Freiheit des Sehens

Auf den Spuren der Romantik in der bildenden Kunst Europas
Prof. Dr. Johannes Grave im Gemäldedepot der Kunstsammlung der Universität.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Die Epoche der Romantik fiel in eine Zeit von Umbruch und Wandel und konfrontierte die Künstler in ganz Europa mit gesellschaftlichen Veränderungen, die sie bildnerisch verarbeiteten. Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede lassen sich dabei in Bildern ausmachen? Dieser Frage gehen Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker an der Universität Jena nach – dem Ort, an dem die Romantik ihren Anfang nahm.

Text: Irena Walinda


Gibt es eine europäische Romantik in der bildenden Kunst? Oder gibt es stattdessen mehrere, voneinander unabhängige romantische Bewegungen in Europa? Was verbindet Künstler wie Caspar David Friedrich, William Turner, Eugène Delacroix und Francesco Hayez? »Für die Literaturwissenschaften ist die Frage nach einer europaweiten Perspektive auf die Romantik nicht neu«, sagt Prof. Dr. Johannes Grave, »für die bildende Kunst aber ist sie weit weniger selbstverständlich.« Der Professor für Neuere Kunstgeschichte verweist auf eine einzige Ausstellung, die 1959 unter dem Titel »The Romantic Movement« in London gezeigt wurde. Diese und wenige, vereinzelte Publikationen konnten die Frage nach einer europäischen Romantik aber nicht hinreichend beantworten. Deshalb stellen sich Grave und sein Team jetzt der Herausforderung, eine europäische Perspektive in der Forschungsgruppe »Europäische Romantik oder Romantiken in Europa?« zu erarbeiten.

Die Morgenröte der Moderne

Die Künstler der Romantik bereisten rege ganz Europa. Der Engländer William Turner wanderte am Rhein entlang und malte ihn mehrfach. Die meisten Künstler gingen zeitweilig nach Italien – das gehörte zum damaligen Künstlerdasein fast schon dazu. Verbindungen und Austauschbeziehungen gab es auch über die Kunst hinaus: Johann Wolfgang Goethe beispielsweise kannte und schätzte die Lithografien von Eugène Delacroix zu seinem »Faust«. »Aber auch unabhängig davon, ob sich die Künstler untereinander kannten, müssen sie sich ähnlichen Veränderungen und Herausforderungen gegenübergesehen haben, die möglicherweise ähnliche Lösungsversuche angeregt haben«, so vermutet Grave.

»Ein ebenso verbindendes wie einschneidendes Ereignis war sicherlich die Französische Revolution.« Zum ersten Mal zeigte sich, dass die jahrhundertealte Ordnung der Monarchie durch eine andere Gesellschaftsform ersetzt werden konnte. Die Gesellschaft, zuvor geprägt von fürstlicher Herrschaft und Kirche, begann sich dynamisch auszudifferenzieren. »Eine weitere Veränderung in den Denkmustern der damaligen Zeit lässt sich auf dem Feld der Philosophie beobachten, die – vor allem angeregt durch Kant – auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Den historischen und geistesgeschichtlichen Umwälzungen ist gemeinsam, dass sie den Zeithorizont der Menschen veränderten. Die Zeitgenossen um 1800 haben ihre Zukunft als offener erfahren als zuvor. Das Leben erschien nun in stärkerem Maße gestaltbar, der Mensch sah sich aber zugleich größeren Unsicherheiten ausgesetzt.« Diese Umbruchserfahrung hätten viele Künstler gemeinsam erlebt – unabhängig davon, in welchem Land sie lebten. In Bildern der Romantik scheint dieser neue Erfahrungshintergrund anschaulich zu werden. Sie setzen nicht mehr allein darauf, eine bestimmte Aussage zu vermitteln, sondern fordern den Betrachter dazu auf, das Kunstwerk durch seine Rezeption selbst zu vervollständigen.

Die Zeit des Betrachtens

Nicht die Kommunikation eines bestimmten Gedankens, sondern der Anstoß zu einem Nachdenken scheint daher im Zentrum der Arbeit vieler romantischer Künstler gestanden zu haben. »Auffällig viele Künstler der Zeit um 1800 haben Bilder geschaffen, die uns viel Zeit abverlangen und deren Betrachtung dabei nicht einfach zu einem klar bestimmbaren Ende führt. Die Romantiker scheinen die Zeit der Betrachtung als ein besonderes Potenzial von Bildern erkannt und gezielt genutzt zu haben«, so Grave. Seiner Meinung nach versuchten die romantischen Maler, die Aufmerksamkeit der Rezipienten möglichst lange zu binden. »Je mehr Zeit für die Bildbetrachtung aufgewendet werden musste, desto stärker konnte auch der Eindruck entstehen, dass ein Bild Macht über seine Betrachter gewinnt.« Dafür setzten die Maler unterschiedliche bildliche Strategien ein. Welche Strategien das genau sind, erarbeitet die Forschungsgruppe anhand von Fallstudien zu einzelnen Künstlern.

Die Landschaft und die Freiheit des Sehens

Die Wahl der Bildgattung könnte dabei eine große Rolle gespielt haben. »Die Landschaft als Bildgattung erlangt in der Romantik eine größere Bedeutung als in anderen Epochen«, sagt Grave. Das sei kein Zufall. Graves These: Weil der Landschaft weniger narrative Programme zugrunde lägen, ermögliche sie eine neue Freiheit des Sehens. Romantische Bilder wollten nicht unbedingt »ein Ziel erreichen oder eine Art Take-Home-Message liefern, sondern vielmehr eine ästhetische Erfahrung ermöglichen, die gerade in ihrem Vollzug als sinnhaft wahrgenommen werden kann; nicht, weil sie besondere Einsichten bereithält, sondern weil sie sich im Betrachter selbst entfaltet.« Schriftliche Äußerungen von Künstlern wie Philipp Otto Runge oder Caspar David Friedrich bestätigen eine solche Hypothese.

Ein ähnlicher Anspruch an eine neue ästhetische Erfahrung findet sich auch bei den englischen Landschaftsgärten, wie sie sich im 18. Jahrhundert in Form und Stil ausprägten. »Die Besucher des Ilmparks in Weimar beispielsweise verfolgen bei ihrem Besuch oft kein konkretes Ziel, sondern genießen die Stimmungen bei ihrem Spaziergang, die durch den Besuch des Parks hervorgerufen werden«, so Grave.

 

Kunsthistoriker Prof. Dr. Johannes Grave im Park an der Ilm in Weimar. Der Park ist im Stil englischer Landschaftsgärten gestaltet und vermittelt den Besucherinnen und Besuchern stimmungsvolle Begegnungen mit der Natur.
Kunsthistoriker Prof. Dr. Johannes Grave im Park an der Ilm in Weimar. Der Park ist im Stil englischer Landschaftsgärten gestaltet und vermittelt den Besucherinnen und Besuchern stimmungsvolle Begegnungen mit der Natur.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Englische Landschaftsgärten und die Freiheit der Bewegung

Die Gärten wurden gezielt so entworfen, dass sie eine neue Freiheit in der Bewegung ermöglichen. Die Wegführung ist wenig vorhersagbar, die Ausblicke sind stimmungsvoll und überraschend, die Pflanzenwelt erscheint »natürlicher« und die Parklandschaft offenbart sich bildähnlich. Die Künstler der Romantik konnten an solche Erfahrungen anknüpfen: Erfuhr man im Landschaftsgarten eine neue Freiheit der Bewegung, so bieten Bilder der Romantik Spielraum für eine neue Freiheit des Sehens.

Grave und sein Team untersuchen jetzt diese Thesen hier in Jena, an dem Ort, an dem die Romantik in der Literatur ihren Anfang fand. Die Universität mit der Forschungsstelle »Europäische Romantik« ist der perfekte Ort, an dem Romantik-Forschende zusammenkommen und sich austauschen können. Durch die Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Forschungsgruppe, des Graduiertenkollegs »Modell Romantik« und des Sonderforschungsbereichs »Praktiken des Vergleichens« der Universität Bielefeld, an dem die Jenaer Kunstgeschichte beteiligt ist, könnte schlussendlich eine gesamteuropäische Perspektive erarbeitet werden. Ein erster Versuch wird eine internationale Konferenz im Herbst 2022 sein.

Drei Fragen an Prof. Dr. Johannes Grave

Was können wir von der Romantik lernen, um gegenwärtige Herausforderungen – etwa die Klimakrise – zu meistern?

Grave: Eine schwierige Frage, daher arg verkürzt geantwortet: Vielleicht könnte uns die Romantik dazu anregen, unser ambivalentes Verhältnis zur Natur besser zu verstehen. Wir sind sowohl Teil der Natur und auf sie angewiesen als auch in der Lage, reflektierend Distanz zu ihr zu nehmen. Zudem sind wir sowohl potenzielle »Opfer« einer Natur, deren Gewalten wir uns ausgesetzt sehen, und zugleich »Täter«, indem wir Natur umgestalten und teils irreversible Eingriffe vornehmen. In Diskussionen über die Klimakrise wird möglicherweise der eine oder der andere Aspekt allzu einseitig betont.

Welche Rolle spielen Bilder in der heutigen Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Wirklichkeit?

Grave: Die Flut der Bilder, in der wir uns bewegen und mit der wir kommunizieren, mag zwar auch Abstumpfungseffekte haben, sie prägt aber ganz wesentlich unsere Wahrnehmung der Welt und unsere Diskussionen. Was im Bild anschaulich wird, scheint oftmals unmittelbar evident – obgleich es das keineswegs ist. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren kritischen Umgang mit Bildern schulen, also an einer »Alphabetisierung« auf dem Sektor des Bildes arbeiten. Dann werden wir übrigens nicht nur die Probleme und Gefahren eines allzu naiven Blicks auf Bilder verstehen, sondern auch deren Potenziale nochmals klarer sehen. Bilder können nämlich weit mehr als etwas abzubilden; sie können regelrechte Instrumente des Denkens werden, sofern man mit ihnen umzugehen weiß.

Was glauben Sie, wie werden Menschen in 200 Jahren über unsere heutigen Bilder denken? Was werden sie daraus über uns ableiten?

Grave: Das lässt sich schon deswegen kaum antizipieren, weil schwer einzuschätzen ist, welche Bilder dann überliefert sein werden und welche Verfahren des – beispielsweise computergestützten – Blicks auf Bilder dann vorherrschen werden. Es scheint mir aber gut möglich, dass man viele unserer heutigen Bilder als Symptome von Problemen wahrnehmen wird, die wir vielleicht noch gar nicht in dieser Schärfe sehen. Wo wir zum Beispiel in aktuellen Instagram-Aufnahmen von Menschen in der Landschaft ein besonderes Bedürfnis nach Naturnähe sehen, wird man später vielleicht eher den Ausdruck eines gespaltenen Verhältnisses zur Natur erkennen.