Tausende Bürger protestieren in Jena, undatierte Aufnahme von 1990.

Kalenderblatt

30 Jahre Mauerfall:​ In Jena blieb es lange ruhig
Tausende Bürger protestieren in Jena, undatierte Aufnahme von 1990.
Foto: Peter Scheere

Am 9. November 1989 öffnete sich die Berliner Mauer. Wer diesen Tag erlebt hat, wird sich sicherlich an den Moment erinnern, der wie kein anderer den Erfolg der Friedlichen Revolution in der DDR symbolisiert. Doch wie sah die Situation im Herbst 1989 an der Universität Jena aus? Das Kalenderblatt schaut zurück.

»Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich«. Diese holprig gestammelten Worte des SED-Spitzenfunktionärs Günter Schabowski brachten die Berliner Mauer zu Fall. Mit der Euphorie des 9. November 1989 entwich buchstäblich der Druck aus dem Dampfkessel namens DDR. Doch die »Wende« — den Begriff prägte SED-Generalsekretär Egon Krenz -, die Friedliche Revolution hatte ihren Höhepunkt bereits am 4. November. Hunderttausende Menschen feiern auf dem Berliner Alexanderplatz die Redner der Opposition und pfeifen die Betonköpfe der Nomenklatura aus. Es gärt schon lange im Land. Nicht nur in Zentren wie Berlin oder Leipzig, auch in der Provinz regt sich Widerstand. Plötzlich wird aus dem Mut Einzelner eine Bewegung der Massen. Während Michail Gorbatschow in der Sowjetunion Glasnost und Perestroika — Offenheit und Umgestaltung — verlangt, verharrt die DDR im Stillstand. Die UdSSR ist zum Hoffnungsträger geworden. Umso erstaunter sind die Menschen, als im November der »Sputnik«, das Digest der sowjetischen Presse verboten wird. SED-Chefideologe Kurt Hager erklärt schon ein Jahr zuvor, niemand müsse seine Wohnung neu tapezieren, bloß weil der Nachbar die seine renoviert.

»Reformhaus« war Vorläufer des StuRa

An der Universität Jena blieb es lange ruhig. Kritische Geister wurden schon in den Jahren zuvor vertrieben, etwa Roland Jahn, Jürgen Fuchs, Lutz Rathenow oder Siegfried Reiprich. Ein erstes Zeichen von Unbotmäßigkeit setzten Studenten 1988 mit der Ambulancia-Aktion: Ohne Mitwirken der FDJ (»Freie Deutsche Jugend«) sammelten sie Geld für einen Krankenwagen für Nicaragua. Im Herbst 1989 ging es weiter. Das »Reformhaus«, ein Plenum innerhalb der Universität, führte etwa 800 Studenten, einige Mitarbeiter und Gäste zusammen. Unter dem Motto »Mut statt Wut« erschien sogar ein Sonderdruck der Uni-Zeitung »Sozialistische Universität«. Aus dem »Reformhaus« entstand Mitte November 89 der Studentenrat. Rektor Hans Schmigalla erkannte das Gremium »trotz Bedenken« an und zeigte sich offen zur Zusammenarbeit. Der Studentenrat konstituierte sich am 23. November 1989; erster Vorsitzender war Gert Noack.

Anfang Dezember, die Mauer war schon Geschichte, wurde auf Initiative mehrerer Hochschullehrer um den jüngst verstorbenen Dietfried Jorke die Aktionsgemeinschaft Demokratische Erneuerung der Hochschule gegründet. Im Januar 1990 folgte die Neuwahl des Wissenschaftlichen Rates, im Februar die eines neuen Rektors: Die meisten Stimmen erhielt Gerhard Riege, doch die Wahl des Rechtswissenschaftlers wurde angefochten. Im April 1990 setzte sich der Physiker Ernst Schmutzer als 314. Rektor der Alma Mater Jenensis durch. In seine Ägide fielen die schmerzhaften Geburtswehen hin zu einer erneuerten, demokratisierten Universität.

Text: Stephan Laudien