Text: Sebastian Hollstein
Sehr gegenwärtig ist auch das literarische Genre »Nature Writing«: Menschen gehen auf Expedition, wandern im Wald oder spüren Tieren nach – und schreiben darüber. Das Schildern ganz subjektiver Zugänge zur »grünen Umgebung« hat vor allem im angelsächsischen Sprachraum Tradition. So regte die vermeintlich unberührte Wildnis des nordamerikanischen Kontinents viele Autorinnen und Autoren bereits seit dessen Entdeckung an, sich mit der Natur ins Verhältnis zu setzen.
»Landschaft und Weite wurden zur Reflexionsfläche für das aufkeimende amerikanische Nationalbewusstsein und für die Erkundung des eigenen Selbst«, sagt Luisa Turczynski, die sich während ihrer Promotion mit dem Nature Writing beschäftigt.
»Diese intensive und romantisch geprägte Beschäftigung mit der Natur, beeinflusst etwa durch die Schriften des Jenaer Frühromantikers Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, führte zu neuen philosophischen und literarischen Strömungen, wie dem bis heute wirkmächtigen Transzendentalismus.« Dessen Vertreterinnen und Vertreter – der wohl berühmteste ist Henry David Thoreau mit seinem Werk »Walden« – propagierten eine naturzugewandte Lebensführung und eine individuelle Erfahrung von Religion, für die insbesondere die Natur einen Raum bietet.
Seit den späten 1970er Jahren hinterfragen Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zunehmend die verschiedenen romantisch geprägten Darstellungen des Verhältnisses von Mensch und Natur. Anfangs enthusiastisch gefeiert, fiel die Romantik-Rezeption später durchaus differenzierter aus. »Wie einige Vertreterinnen und Vertreter des Ecocriticism bemängeln, idealisiert das romantische Nature Writing die Natur häufig als unberührte Wildnis, in der der Mensch keinen Platz hat und ihr stattdessen eher unverbunden gegenübersteht«, sagt Turczynski. »Sie versuchen deshalb vielmehr zu ergründen, was Literatur heute leisten kann, damit wir – vor allem vor dem Hintergrund der Klimakrise – zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit der Natur kommen.«
Die Amerikanistin erforscht im Rahmen ihrer Dissertation diesen kritischen, sich verändernden Blick auf kontinuierlich verwendete romantische Modi und fragt dabei insbesondere nach einer explizit weiblichen Perspektive auf das Thema. »Feministische Lesarten kritisierten, dass das romantisch geprägte, kanonisierte Nature Writing ein männerdominiertes Genre sei, in dem sich ein Autor gegenüber der Natur erhebe und sie als spirituellen Raum für Transzendenzerfahrungen oder zur Selbstvergewisserung gebrauche«, erklärt die Literaturwissenschaftlerin. »Schriftstellerinnen wird hingegen in diesem Zusammenhang oft ein anderer, essenziell ›weiblicher‹ Modus von Naturerfahrung und -darstellung zugeschrieben, der auf einer eher empathischen Identifikation mit Natur gründen soll.«
Für Luisa Turczynski schränkt diese Interpretation den Zugang zu einer ökologischen Auffassung von Literatur eher ein. Sie möchte mit ihrer Arbeit den binären, geschlechtlich definierten Dualismus nicht fortschreiben, sondern ihn überwinden. Dafür destilliert sie die Gemeinsamkeiten der einander gegenübergestellten Selbst-Natur-Konzeptionen zu einem Modell, das die Kontinuität romantischer Denk- und Darstellungsmuster in den Blick rückt. Anhand von Romanen der Autorinnen Ibis Gómez-Vega, Barbara Kingsolver und Abi Andrews analysiert sie schließlich, inwiefern diese Muster in der Gegenwartsliteratur aufgegriffen werden. Ihr (Zwischen-)Fazit: »Frauen schreiben nicht zwingend anders über Natur, weil sie Frauen sind«, sagt Turczynski. »Vielmehr verändern sich die Darstellungsweisen im historischen Kontext. Autorinnen nutzen Naturerfahrungen beispielsweise als Ausdrucksmittel für weibliche Emanzipationserzählungen und greifen dabei zum Teil auf romantische – vermeintlich männliche – Elemente zurück.« So inszeniert etwa Ibis Gómez-Vega in ihrem Roman »Send My Roots Rain« Wildnis gewissermaßen im romantischen Sinne als Ort der ultimativen Selbsterkundung, der Transzendenzerfahrung und des spirituellen Erwachens. Allerdings ermächtigt eben jene Naturerfahrung ihre Protagonistin, sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen und gegen die vorherrschende patriarchale Ordnung zu rebellieren.