Dr. Annika Bartsch

Die große Sehnsucht

Dr. Annika Bartsch
Dr. Annika Bartsch
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Text: Sebastian Hollstein

»Die Romantiker werden getrieben von der Sehnsucht nach einem höchsten Prinzip, das allem zugrundeliegt – das aber gleichzeitig unerreichbar ist. Es liegt jenseits dessen, was wir verstehen oder erkennen können. Aber das Gefühl einer Leerstelle, eines existenziellen Mangels ist da. Es setzt diese permanente Suchbewegung der Romantik in Gang«, so erklärt Dr. Annika Bartsch den Ausgangspunkt des romantischen Denkens. In welcher Form dieses in Romanen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aufgegriffen und aktualisiert wird, erforschte sie im Rahmen ihres Dissertationsprojekts.

»Auch heutige Autorinnen und Autoren nehmen immer wieder auf die vor 200 Jahren entstandenen Ideen Bezug, häufig im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umbrüchen«, sagt die Literaturwissenschaftlerin. »Insbesondere seit Beginn der 2000er Jahre hat die Bezugnahme auf das Modell ›Romantik‹ wieder Hochkonjunktur.« Die Gesellschaft wird vielfältiger. Bereiche wie Kultur, Medien oder Wissenschaft bieten jeweils eigene Wertesysteme für das Individuum. Eine starke Partikularisierung und Fragmentierung der Gesellschaft trifft auf eine Betonung individueller Freiheiten und wirft dabei mehr Fragen als Antworten auf.

In dieser Orientierungslosigkeit, von der aus sich Parallelen zur Situation um 1800 ziehen lassen, als unter anderem durch die Aufklärung frühere Erklärungsmuster wegfielen, bietet die Romantik möglicherweise einen Ausweg. Denn die oder der Einzelne muss hierbei nicht permanent Entscheidungen treffen – ob nun auf dem Berufsweg oder im Supermarkt – sondern erlebt in der unstillbaren Sehnsucht nach dem höchsten Prinzip erfüllende Momente der Einheit beispielsweise in der Natur, etwa beim Waldbaden oder bei der bloßen Betrachtung eines Sonnenuntergangs.

Geradezu programmatisch findet sich das Modell in einem der hierzulande meistgelesenen Bücher der vergangenen Jahrzehnte: Wolfgang Herrndorfs »Tschick«. Neben Werken von Felicitas Hoppe, Helmut Krausser und Hans-Ulrich Treichel hat Annika Bartsch Herrndorfs 2010 erschienene Coming-of-Age-Geschichte im Rahmen ihres Dissertationsprojekts analysiert und dabei herausgearbeitet, wie stark der Roman von romantischen Ideen durchdrungen ist. »Zwei Jungs begeben sich auf eine Expedition ins Ungewisse und sind dabei mit dem Mysterium des Erwachsenwerdens konfrontiert – das hat klare romantische Bezüge«, fasst die promovierte Germanistin zusammen, die einen Aufsatz über das Buch in Anlehnung an Joseph von Eichendorff mit »Zwei ›Taugenichtse‹ im geklauten Lada« betitelte. Damals wie heute bietet die Struktur der Reise einen Erfahrungsraum, in dem nicht zuletzt Natur­erscheinungen – etwa der Blick in den Sternenhimmel – ein intensives Erleben der Sehnsucht nach dem höchsten Prinzip ermöglichen.

Dabei sind es auch in der Gegenwartsliteratur literarische Mittel, die aus der Romantik um 1800 bekannt sind, durch die sich die Sehnsucht nach einem Absoluten im Text manifestiert. Wenn etwa durch Ironie eine klare Aussage verweigert wird, Behauptung und Widerruf gleichermaßen nebeneinanderstehen, erzeugt das eine Atmosphäre der Schwebe. »Wenn in ›Tschick‹ die beiden Helden ›in die Sterne mit ihrer unbegreiflichen Unendlichkeit‹ schauen und sich fragen, ob es da noch irgendetwas gibt, erzeugt der Text durch die Wortwahl – und die Ergriffenheit der Jugendlichen – einerseits die Annahme eines höheren Zusammenhangs. Andererseits wird die Szene ironisch gebrochen, da die Frage nach diesem irgendetwas ausgeht von der fantastischen Vorstellung von Insekten auf anderen Planeten. Ein absolutes Prinzip wird also weder explizit angenommen noch dementiert – der Text bekräftigt vielmehr den Möglichkeitsraum, das Gefühl der Ergriffenheit, das die Jungs in diesem Moment spüren«, sagt Bartsch. »Felicitas Hoppe macht diesen Zustand der Schwebe sogar zum Leitmotiv ihres Romans ›Paradiese, Übersee‹.«

»Schriftstellerinnen und Schriftsteller greifen in ihren Werken nicht zwingend bewusst auf romantische Ideen und Instrumentarien zurück. Vielmehr ist Romantik ein Modell, das so tief in der Gegenwartskultur verankert ist, dass wir alle unbewusst darauf zurückgreifen können, auch wenn wir es nicht so benennen«, sagt Annika Bartsch. »Herrndorfs Texte können als romantisch beschrieben werden, obwohl der Begriff und explizite Bezugnahmen auf die historische Strömung fehlen. Helmut Krausser hingegen macht in ›Thanatos‹ einen Romantikforscher zu seinem Helden«, berichtet Annika Bartsch. »Die unterschiedlichen Darstellungsformen zeigen jedoch alle, dass Romantik als Selbst- und Weltdeutung interessant für das Individuum ist, um mit Partikularitätserfahrungen einerseits und der Sehnsucht nach einem höheren Sinn andererseits umzugehen – damals vor 200 Jahren ebenso wie heute.«