PD Dr. Sandra Kerschbaumer ist Forschungskoordinatorin des Graduiertenkollegs »Modell Romantik«.

Die Welt muss romantisiert werden

Literaturwissenschaftlerin Sandra Kerschbaumer über romantische Motive in der Politik.
PD Dr. Sandra Kerschbaumer ist Forschungskoordinatorin des Graduiertenkollegs »Modell Romantik«.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

In der Corona-Pandemie hat die Romantik scheinbar Konjunktur. Menschen begeben sich auf Waldspaziergänge, teilen Naturfotos in den sozialen Medien und finden Erfüllung im Backen von Bananenbrot. Doch nicht nur im Privaten, auch in Gesellschaft und Politik tauchen romantische Motive auf: Viele Menschen sind verunsichert und sehnen sich nach übergeordneter verbindender Gemeinschaft. Was das mit Romantik zu tun hat und wie die mehr als 200 Jahre zurückliegende Epoche in unserer modernen Gesellschaft weiterwirkt, erklärt Literaturwissenschaftlerin und Romantik-Expertin PD Dr. Sandra Kerschbaumer.

Interview: Ute Schönfelder


Frau Kerschbaumer, täuscht der Eindruck oder erlebt die Romantik gerade einen Boom?

Den Eindruck kann man durchaus gewinnen, zumindest wird der Begriff Romantik häufig gebraucht, um sich zu positionieren, zu identifizieren bzw. sich abzugrenzen.

Was genau wird in Bezug auf Politik unter Romantik verstanden?

Das ist sehr unterschiedlich und auch widersprüchlich. Das reicht vom Vorwurf der Innerlichkeit und Weltflucht über die Betonung ironischer Ungebundenheit bis zur Verbindung mit dem Nationalismus, ganz verschiedene Vorstellungen und Aneignungen kommen da zutage.

Dann lassen Sie uns zunächst einmal klären, worin der romantische Anspruch an Politik besteht.

Mit Blick auf die historische Romantik und ihre Texte plädiere ich dafür, weniger auf Positionen zu schauen, die einzelne Autoren vertreten haben, sondern eher eine verbindende romantische Denkweise herauszustellen, die sich in einem Fragment des Dichters Friedrich von Hardenberg (Novalis) sehr gut ausdrückt. Er hat gefordert, die Welt müsse »romantisirt« werden. Das ist ein wesentlicher Punkt im romantischen Denken: sich nicht auf das zu beschränken, was wir in der sichtbaren sinnlichen Welt erfahren können, sondern den Zusammenhang mit einem dahinterstehenden Unendlichen, Mystischen, Geheimnisvollen, Absoluten zu suchen. Doch was im Privaten und in der Kunst sehr reizvoll ist, kann im Politischen durchaus gefährlich werden.

Inwiefern?

Weil ein solcher Anspruch schnell zu einem Gefühl des Ungenügens führen kann. Novalis hat in seinen politischen Texten, wie »Glauben und Liebe oder der König und die Königin« oder »Die Christenheit oder Europa«, das Prinzip des Romantisierens auf die Politik übertragen: Die Liebe oder ein neuer Glaube sollen die Menschen innerhalb eines Staates zu einer Gemeinschaft verbinden und ihrem Zusammenleben Sinn verleihen. Eine Verfassung oder kalte demokratische Institutionen kommen da nicht mit. Die Liebe! Gemeinsame Glaubensüberzeugungen! Sinn! Durch solche Ansprüche entwickelt sich eine überscharfe Sicht auf die vermeintlichen Mängel der sich damals gerade ausprägenden bürgerlichen Gesellschaft, die ja nur Einzelinteressen ausgleichen kann und keine Gemeinschaft stiften will. Eine Skepsis gegenüber der demokratischen Rechtsordnung können wir auch heute an vielen Stellen beobachten.

Leistet die frühe Romantik damit heutigen Populisten und Querdenkern Vorschub?

Man muss besonders der frühen Romantik zugestehen, dass sie unter großen Spannungen und zwischen Widersprüchen stand: Mit den Prozessen der Säkularisierung, dem langsamen Umbau der ständischen Ordnung in eine funktional differenzierte Gesellschaftsformation, der Französischen Revolution verlor eine zuvor scheinbar festgefügte Welt ihre zentralen Bezugspunkte und nahm vielen Menschen eine selbstverständliche Orientierung. Daraus erklärt sich der romantische Impuls, das Auseinanderfallende wieder zusammenzufügen, der Wunsch nach einer sinnhaften Ordnung. Den kann man auch aus heutigen politischen Zusammenhängen herauslesen. Es gibt z. B. eine soziologische Studie der Universität Basel, die romantische Aspekte der Querdenker-Szene betont, eben dort, wo sich der Wunsch nach (quasireligiösen oder medizinisch) ganzheitlichen Denkweisen mit einer Verachtung liberal-demokratischer Institutionen verbindet.

Was dem aus meiner Sicht aber entgegensteht, ist, dass sich der romantische Ansatz nicht in dem Wunsch nach einer wie auch immer verstandenen »Ganzheitlichkeit« erschöpft. Den Romantikern war klar, dass das Bröckeln des alten Glaubens und alter Strukturen nicht nur verunsichert, sondern den Menschen ermöglicht, sich neu zu entfalten, die Vernunft und die Einbildungskraft zu nutzen, Freiheit zu gewinnen und ästhetisch zu experimentieren. Die Philosophen jener Zeit, allen voran Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte, hatten das Subjekt plötzlich ins Zentrum gerückt, und auch für die Romantiker bildet das Ich einen Mittelpunkt ihres Denkens. Sie haben versucht, Unterschiedliches miteinander zu verbinden. Novalis bringt zwar seine Sehnsucht nach einer von Sinn getragenen (politischen) Welt zum Ausdruck. Aber er präsentiert diese in einer poetischen Form und nicht als politisches Programm. Und das zitierte Fragment stellt das Romantisieren als eine Tätigkeit des Ich dar – es selbst erschafft gewissermaßen erst die Zusammenhänge, nach denen es sich sehnt. Er formuliert eine Idee, an der man sich orientieren kann und macht klar, dass der Weg zur Erfüllung unendlich weit ist. Diese selbstreflexiven Momente zeichnen die frühe Romantik aus. Wer ihr gerecht werden will, muss diesen Aspekt immer mit einbeziehen.

Neben der Zuschreibung romantischer Prinzipien gibt es aber auch Personen, die die Romantik explizit für sich in Anspruch nehmen. Zum Beispiel der Thüringer AfD-Vorsitzende und Rechtsextreme Björn Höcke.

Richtig, wobei Höcke genau den subjektiven, oftmals auch ironischen Aspekt verkennt. Er betont einseitig die Sehnsucht nach dem Aufgehobensein in einer Gemeinschaft und verknüpft diese eng mit dem Begriff des »Volkes«, der bei ihm einen brutal ausschließenden Charakter hat. In seinem Gesprächsband »Nie zweimal in denselben Fluss« von 2018 beschreibt er seine Vorstellung einer »romantischen Tiefenhellsichtigkeit der Deutschen«, die darin bestehen soll, die »Dinge hinter den Dingen« zu kapieren und deswegen auf die Niederungen der politischen Alltagspraxis herabzublicken. Häme gegen den Parlamentarismus, Kapitalismuskritik und Verachtung demokratischer Institutionen steigern sich bei Höcke zur Rede von den »Schutthalden der Moderne«. Um die abzuräumen, formuliert er einen hochproblematischen Gedanken, nämlich den, dass es nicht auf Verfassung und Verfahren ankomme, sondern auf Substanz. Höcke schreibt: »Es sind nicht die äußeren Formen – die einem laufenden natürlichen Wandel unterliegen –, sondern die inneren Substanzen, aus denen der Genius des Volkes seine Kraft schöpft und den es zu erhalten gilt.« Was sollen das für Substanzen sein? Wer kontrolliert den Genius? Und wer schützt die Bürger, die nicht an ihn glauben?

Man muss feststellen, dass der Wunsch nach großen und verbindenden Ideen in der Politik von einem Traditionsstrang romantischen Denkens durchaus begünstigt wird.

Wie ließe sich das vermeiden?

Indem wir uns klarmachen, dass überhöhte Ansprüche an Politik von Demokratiefeinden genutzt werden können. Dass es nicht um quasi-religiöse Erlösung geht, sondern um Rechtsgarantien und demokratische Verfahren.

Woran liegt es, dass romantische Sehnsüchte und Denkweisen heute so verfangen?

Die Moderne zeichnet sich durch gesellschaftliche Entwicklungen aus, auf die schon die historische Romantik reagiert hat und die bis heute anhalten. Wenn wir uns die Zeit um 1800 ansehen, die auch als Sattel- oder Schwellenzeit bezeichnet wird, sehen wir Phänomene wie den Umbau des Gesellschaftssystems. Wir sehen, wie sich unterschiedliche Teilbereiche der Gesellschaft ausbilden, die ihren eigenen Logiken folgen: die Naturwissenschaften, die Politik, die Religion, die Kunst. Und sie alle konkurrieren miteinander, indem sie verschiedene Normen, Wertesysteme und Orientierungen anbieten. Das Individuum ist zunehmend ungebundener und kann freier wählen und steht plötzlich vor der Aufgabe, sich selbst seinen Platz zu suchen und sich seiner Identität zu vergewissern. Das ist um 1800 neu. Das sind aber auch Prozesse, die bis in unsere Gegenwart anhalten. Auch wir stehen vor Umbau- und Selbstbefragungsprozessen. Sicher geglaubte Wahrheiten schwinden. Wir müssen uns als Individuen finden und spüren bei aller Freiheit eine gewisse Kontingenz. Weil wir nicht mehr per Geburt oder Ort unseres Aufwachsens oder durch unsere Religionszugehörigkeit auf eine Identität festgelegt sind. Mit dieser Unsicherheit bzw. Fluidität des eigenen Lebens müssen wir umgehen und das können wir tun, indem wir außerhalb des eigenen Lebens Orientierungspunkte suchen – oder vermeintlich feststehende Wahrheiten. Das war zur Zeit der Romantik so und ist es auch heute.

 

Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. […] Das niedere Selbst wird mit dem besseren Selbst in dieser Operation identificirt. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es.

Friedrich von Hardenberg (Novalis),
Fragment (1798)