Stefan Matuschek hinter Büsten von zentralen Protagonisten der Jenaer Frühromantik.

Was wir nicht wissen können, stellen wir uns vor

Literaturwissenschaftler Stefan Matuschek spricht im Interview über das Prinzip Romantik
Stefan Matuschek hinter Büsten von zentralen Protagonisten der Jenaer Frühromantik.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Stefan Matuschek leitet das Graduiertenkolleg »Modell Romantik. Variation. Reichweite. Aktualität«. Im Interview erläutert er, wie die Romantik uns heute vor Fundamentalismus bewahren kann, warum Goethe und Schiller keine »Klassiker«, sondern »Romantiker« sind und wieso ohne die Universität Jena die Romantik in Deutschland eine ganz andere Entwicklung genommen hätte.

Interview: Ute Schönfelder

Was macht für Sie das Wesen der Romantik aus?

Das wird vor allem im Verhältnis der Romantik zur Aufklärung deutlich. Eine noch immer populäre Vorstellung ist, dass die Romantik eine Art Gegenbewegung nach der wissenschaftlich, begrifflichen Aufklärung sei, eine Art Wiederverzauberung der Welt. Im negativen Sinne geht es dann oft um Irrationalismus oder gar, wie Georg Lukács es einmal gesagt hat, um die Zerstörung der Vernunft. Das halte ich für ganz falsch. Die Romantik ist ein sehr wertvolles Erbe für uns! Sie bietet uns einen Modus an, wie wir mit den Dingen umgehen können, die wir nicht auf der Ebene unserer klaren Begriffe und unseres klaren Verstandes bearbeiten können: Gibt es eine Perspektive über den individuellen, körperlichen Tod hinaus? Hat das Leben einen Sinn? Wir finden auf solche Fragen keine empirischen Antworten. Aber sie haben für das menschliche Leben eine sehr große Bedeutung. Deshalb suchen wir Antworten. Und wir finden Antworten durch unsere Imagination.

Das heißt, wir legen uns die Antworten einfach selbst zurecht?

Das heißt, wir stellen uns etwas vor. Wir können uns ein Leben nach dem Tod vorstellen. Wir können uns die Welt und unser Leben als ein Ganzes vorstellen. Das allein macht das Erbe der Romantik aber noch nicht aus. Sondern das Erbe der Romantik ist es, uns den Unterschied vor Augen führen zu können, zwischen dem, was wir messen können, und dem, was wir uns nur vorstellen.

Die Romantik in der Literatur hat Verfahren entwickelt, die auf diese Grenze hinweisen, zwischen dem, was ich genau wissen kann, und dem, was einbildungshaft darüber hinaus geht. Sie zelebriert in ihrer Literatur das menschliche Leben und die menschliche Weltwahrnehmung als eine, die immer auch einen imaginären Überschuss hat. Und das Tolle an der romantischen Literatur ist, dass sie als erste so etwas stilistisch markiert, mit Elementen der Ironie, der Subjektivierung.

Ich erkläre das gerne mit der Metapher der Kippfiguren: Das sind Bilder, die zwei Bilder in einem sind und man kann mal das eine und mal das andere wahrnehmen. Die Romantik entwickelt aus der literarischen Stilistik heraus solche Kippfiguren, mit Ganzheitsvorstellungen und Transzendenzvorstellungen und dem Hinweis, dass es nur Vorstellungen sind. Man nimmt das ernst und weiß aber, es ist nur eine Vorstellung. Die romantische Literatur ist die erste, die so etwas stilistisch hinkriegt.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ein sehr anschauliches Beispiel ist das Gedicht »Mondnacht« von Joseph von Eichendorff. Die dritte Strophe lautet: »Meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus.« In diesem Konjunktiv steckt alles! Alles ist eine Vorstellung. Der Autor vermittelt eine befriedigende Naturerfahrung und einen Trost über das irdische Leben hinaus. Das stellt er in diese schlichte und doch gut vorstellbare Metapher. Ich sehe die Seele als Vögelchen förmlich vor mir. Auch dass sie »nach Haus« fliegt, ist eine Vorstellung. Sie kann ein christliches Bekenntnis sein, muss es aber nicht. Und das ist großartig! Das Gedicht vermittelt diese Vorstellung und zugleich das Bewusstsein, dass es nur eine Vorstellung ist.

Was daran halten Sie für wertvoll über die Literaturwissenschaft hinaus?

Diese Literatur ist Ausdruck moderner Transzendenz. Diese Innovation der Romantik ist eine Konsequenz der Aufklärung. Die Romantiker denken und formulieren auf der Basis der Aufklärung. Sie waren alle aufgeklärte Menschen. Aber sie wussten um die Wirksamkeit der Einbildungskraft für das menschliche Leben. Nach den Innovationen der Aufklärung haben wir mit der Romantik den zweiten Innovationsschub, der die Moderne ebenso mit auf den Weg gebracht hat, wie die Aufklärung selbst. Die Frage, wie wir mit dem umgehen, worüber wir kein gesichertes Wissen haben, ist auch heute noch höchst relevant. Denn über diese Fragen schweigen wir nicht einfach, sondern bilden uns Vorstellungen. Und wir können uns bewusstmachen, dass es nur Vorstellungen sind. Eine so verstandene Romantik ist das wirksamste Mittel gegen jeglichen Fundamentalismus.

In der Epoche der Romantik spielten Mythen eine wichtige Rolle. Sehen Sie Parallelen in der Gegenwart, schließlich verbreiten sich Mythen heute schneller denn je, etwa in sozialen Medien?

Ja, es gibt durchaus Parallelen. Vor allem können wir sehen, was passiert, wenn wir das Erbe der Romantik nicht annehmen! Das Wesentliche an der romantischen neuen Mythologie war das Bewusstsein darüber, dass man eine neue Mythologie stiftet – und keine neue Wissenschaft. Die Romantiker wollten neue Erzählungen schaffen, die auf der Höhe des augenblicklichen Wissensstandes waren und trotzdem von allen verstanden werden konnten. Das Problem, was wir mit den modernen Internetmythen haben, ist, dass diese von vielen Menschen eben nicht als Mythen reflektiert werden. Ich finde es in dem Zusammenhang wichtig, nicht den Begriff Verschwörungstheorie zu verwenden, sondern stattdessen von Verschwörungsmythen zu sprechen. Wir müssen uns klarmachen, dass es sich um Mythen handelt, also keine »Theorien«, die mögliche Erklärungen der Wirklichkeit liefern. Wenn uns das gelingt, haben wir das Erbe der Romantik verstanden. Weil uns dann die Einbildung als solche bewusst ist. Dann sind wir reflektierte Romantiker.

Goethe und Schiller, die Vertreter der »Weimarer Klassik«, gelten in anderen europäischen Ländern als Romantiker. Wie kommt das?

Das ist ein großes Missverständnis. Eine Epoche der »Klassik« gibt es nicht. Klassik ist keine Epoche, sondern der Begriff beschreibt in der Literatur das, was man für musterhaft hält. In der europäischen Literatur fällt die jeweilige Klassik in ganz verschiedene Epochen. Die italienische Klassik ist im späten Mittelalter und der frühen Renaissance angesiedelt. Die englische Klassik ist eine »One-Man-Show« namens Shakespeare und datiert im elisabethanischen Barock. Auch die französische Klassik ist eine barocke Klassik, mit dem Hoftheater Ludwigs XIV., Ende des 17. Jahrhunderts. Und die deutsche Klassik fällt nun einfach in die Übergangszeit von der Aufklärung zur Romantik. Und wenn wir von den Klassikern sprechen, meinen wir die Schriftsteller, die an diesen beiden Epochen, die die Moderne prägen, teilhatten.

Unter anderem also Goethe und Schiller?

Genau. Goethe und Schiller sind Aufklärer und Goethe und Schiller sind auch Romantiker. Und das ist kein Widerspruch! Einerseits verlassen sie ihre aufklärerische Herkunft nicht, sondern bleiben bis ans Ende ihrer Tage Aufklärer. Zugleich sind sie selbst sehr innovativ an den Entwicklungen der Romantik beteiligt. Der erste Teil von Goethes »Faust« ist das Hauptwerk der europäischen Romantik!

Goethe und Schiller hatten auch einen engen Bezug zu Jena. Warum wurde Jena zum Zentrum der Frühromantik-Bewegung in Deutschland?

Zur Gründungsgeschichte der Romantik gehört die Universität ganz substanziell dazu. Wenn Jena keine Universität gehabt hätte, wäre das nicht hier passiert. Und es wäre auch nicht passiert, wenn die Universität Jena um das Jahr 1800 nicht so arm gewesen wäre.

Warum nicht?

Die Universität hat junge Leute berufen, die noch nicht etabliert waren, weil die schlichtweg billiger waren. Und das Glück bestand darin, dass aus diesen Leuten so viel geworden ist und dass sie gerade in ihren Anfangsjahren so produktiv waren. Für den Beginn der Romantik ist die entscheidende Person August Wilhelm Schlegel. Er kam 1796 an die Universität Jena und ihm folgten weitere Namen, wie sein Bruder Friedrich und Friedrich Schelling. Eine Rolle hat auch gespielt, dass Jena damals eine Kleinstadt war und die akademische Kultur deshalb so dominant sein konnte. Die Frühromantiker glaubten, sie stünden an der Spitze der Gesellschaft. Das wäre in einer Großstadt nicht möglich gewesen. Also im Grunde muss man konstatieren, dass nicht Jena als Stadt der Gründungsort der Romantik war, sondern die Universität Jena. Das ist doch etwas Besonderes, dass eine Universität in solcher Weise Kulturgeschichte schreibt!

Ist die Romantik-Bewegung, insbesondere die Jenaer Frühromantik, eine Generationen-Bewegung?

Ja. Zwischen der etablierten Schriftstellergeneration der Aufklärer und der jungen Generation der aufkommenden Frühromantik entfachten sich zunehmend Konflikte. Die bestanden aber gar nicht so sehr inhaltlich. Was die jungen Leute von den etablierten Aufklärern trennte, war ihre Einstellung zum sogenannten »common sense«, dem gesunden Menschenverstand. Und das resultiert aus dem Einfluss der Kantischen Philosophie, wie sie von den Romantikern vertreten wurde.

Inwiefern?

Die Kantische Philosophie schlug zur damaligen Zeit an keinem Ort so stark durch wie in Jena. Kant hat zwar in Königsberg seine Vorlesungen gehalten, aber in Jena weitaus mehr Aufsehen damit erregt als dort. Und die Kantische Philosophie legt nahe, dass der gesunde Menschenverstand alleine nicht ausreicht, sondern, dass es in der Einstellung zur Wirklichkeit einen Bruch gibt, zwischen dem naturwissenschaftlichen Wissen und der Selbstreflexion des Menschen über sich.

Kant unterschied zum Beispiel die Begriffe »Verstand« und »Vernunft«: Der Verstand nutzt gesichertes Wissen aus empirischen Fakten und die Vernunft die darüber hinausgehenden Ideen. Diese Unterscheidung räumte mit der Vorstellung auf, man könne mit einem gesunden Menschenverstand alles kohärent beantworten. Das haben die jungen Romantiker aufgenommen und sahen die etablierten Aufklärer nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Also die Frühromantiker brechen nicht mit der Aufklärung, sondern mit der »common sense«-Zuversicht.

Welchen Stellenwert hat Ihrer Ansicht nach die Romantik-Forschung heute und welche Fragen sind noch offen?

Der Stellenwert der Romantik-Forschung ist nach wie vor hoch. Seit einigen Jahrzehnten bildet sie eine sehr breite Spur in der Literaturwissenschaft. Neu ist, dass man die Romantik aktuell in europäische Zusammenhänge stellt. Nationalliteraturen sind keine sachgerechten Abgrenzungen. Daraus resultiert auch eine aktuell offene Frage der Romantik-Forschung: Gibt es eine Einheit der Romantik oder besteht sie doch aus zu verschiedenen Bereichen? Dieser Frage gehen wir in unserem Graduiertenkolleg nach. Wir verwenden dabei den Begriff »Modell«. Also – um das schon etwas vorweg zu nehmen – es gibt nicht die eine Romantik, aber auch nicht unendlich viele Romantiken, sondern es haben sich bestimmte Modelle herausgebildet. Das arbeiten wir in den unterschiedlichen interdisziplinären Projekten heraus.

Was fasziniert Sie persönlich an dieser Epoche und ihren Protagonisten?

Mich fasziniert zu sehen, welche Lebenswirksamkeit literarische Formen haben können. Dass es sich nicht nur um eine Beschäftigung in einer Philologen-Nische handelt, sondern dass die Romantik ein besseres Verständnis der menschlichen Wirklichkeit vermitteln kann.

Haben Sie einen Lieblingsromantiker oder eine Lieblingsromantikerin?

Nein. Dazu habe ich mich zu lange und zu intensiv mit zu vielen von ihnen beschäftigt.

Und wie wäre es mit einem Lese-Tipp für Laien, um sich der Romantik anzunähern?

Dafür würde ich E.T.A Hoffmann empfehlen: den »Sandmann« oder den »Goldenen Topf«. Hoffmann schrieb sehr innovativ und virtuos. Er nutzte das Fantastische – übrigens auch eine Erfindung der Romantik – um Probleme der menschlichen Psyche darzustellen und auf den Punkt zu bringen, wie keiner vor ihm. Man kann ihn als den wichtigsten Autor in Deutschland um 1800 bezeichnen! Und bei ihm verbindet sich qualitativ hochwertige Literatur mit Unterhaltsamkeit. Das wäre ein guter Einstieg in die Romantik.

Romantiker in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB): Johann Wolfgang Goethe (l.) auf einem Gemälde von Heinrich Christoph Kolbe (1771-1836) aus dem Jahr 1822 und Stefan Matuschek lesend.

Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Publikation

  • Prof. Dr. Stephan Matuschek in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek.
    Foto: Jens Meyer (Universität Jena)
    Die missverstandene Epoche In seinem aktuellen Buch »Der gedichtete Himmel« räumt Stefan Matuschek mit Irrtümern und Klischees über die Romantik auf. Seine Botschaft: Nach der Aufklärung brachte die Romantik als zweiter Innovationsschub die Moderne mit auf den Weg.