Mut zur Lücke

Im persönlichen Alltag machen wir es ständig, spätestens seit der Corona-Pandemie aber ist auch für komplexe Gesellschaften klar: Oftmals müssen wir Entscheidungen schnell treffen, auch dann, wenn noch nicht alle Fakten, die zur Beurteilung der möglichen Folgen notwendig wären, bekannt sind. Dabei sind Entscheidungen, die auf Nichtwissen beruhen, nicht per se schlechte Entscheidungen und Nichtwissen nicht grundsätzlich ein Makel, sondern ein ganz normaler und manchmal sogar schützenswerter Aspekt des Alltags, findet der Soziologe Prof. Dr. Matthias Groß.
Prof. Dr. Matthias Groß
Prof. Dr. Matthias Groß
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Kommentar: Matthias Groß


Wissen ist Macht, sagt ein bekanntes Sprichwort. Das muss zwar nicht immer so stimmen, doch zumindest gilt Wissen als Ausdruck von Klugheit, Fleiß, Bildung und Fortschritt. Nichtwissen dagegen, also das Fehlen von Fakten und Gewissheit, gilt als Manko, als Zeichen von Faulheit, Dummheit oder Ignoranz.

Wissen und Nichtwissen stehen gleichberechtigt nebeneinander

Soziologisch betrachtet sieht das ganz anders aus. Wissen und Nichtwissen stehen auf ein und derselben Ebene. Beide können als Ressource zum Handeln genutzt, kulturell konstruiert und sowohl für negative wie positive Ziele verwendet werden. Nichtwissen kann schützen, wie das Recht auf Nichtwissen in der Medizin zeigt. Hier soll der Einzelne davor geschützt werden, Informationen zu erhalten, die für ein gutes Leben nicht sinnvoll erscheinen. Das kann das persönliche Risiko sein, an einer bestimmten Krankheit zu erkranken, für die es keine Heilung oder auch nur Linderung gibt. Das können aber auch Informationen sein, die die Selbstbestimmung beeinträchtigen können, wenn Dinge, wie die sexuelle Orientierung, über eine Person gewusst werden, die diese privat halten möchte. Nichtwissen kann aber auch ein Ausdruck von unverantwortlichem Handeln sein, etwa Informationen aktiv auszuklammern, weil sie dem eigenen Weltbild widersprechen. Welche dieser Interpretationen man wählt, hängt von den eigenen ökonomischen Interessen, sozialen Erwartungen, politischen Einstellungen oder kulturellen Vorlieben ab.

Es lassen sich verschiedene Formen des Nichtwissens unterscheiden. Zum einen können Nichtwissen bewusst konstruiert und Informationen aktiv zurückgehalten werden, etwa um Zweifel zu streuen, wie von der Tabakindustrie in den 1950er Jahren hinsichtlich des Krebsrisikos beim Rauchen.

Zum anderen kann Nichtwissen auch versehentlich oder unvermeidlich entstehen: Durch neues Wissen werden weitere, vorher nicht erkennbare, Wissenslücken deutlich, wie es in praktisch jedem Forschungsprojekt der Fall ist. Weiterhin ist es analytisch wichtig zu klären, ob Nichtwissen in einer bestimmten Zeit in Wissen umgewandelt werden kann oder ob dies eher nicht zu erwarten ist. Wenn es klar ist, dass Nichtwissen, zum Beispiel über die Authentizität einer Terrordrohung, in einem bestimmten Zeitraum nicht in Wissen transferiert werden kann, dann müssen Entscheidungen unter Bedingungen genau definierten Nichtwissens geschehen, wie die Entscheidung über die Absage eines Fußballspiels nach einer anonymen Terrordrohung.

Schließlich gibt es die grundlegende Unterscheidung zwischen Phänomenen, von denen man weiß, dass man sie nicht weiß und Dingen, die vollkommen unbekannt sind, das sogenannte unbekannte Nichtwissen. Letzteres stellt eine erkenntnis-theoretisch andere Kategorie des Nichtwissens dar und ist soziologisch nur im Nachhinein zugänglich, also dann, wenn sich Menschen oder Organisationen über ihr einst nicht erkanntes Nichtwissen bewusst werden. Die Corona-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, dass uns Nichtwissen nicht davon befreit, Entscheidungen zu treffen. Dazu sollten politisch Verantwortliche die Gründe für Entscheidungen unter Nichtwissen offen legen und umfassend kommunizieren. Transparenz über das Nichtwissen kann helfen, die Situation besser zu verstehen, geduldig zu sein und Empathie zu empfinden.

Oft ist genaues Nichtwissen das Beste, was man haben kann

Auf Wissenschaftsseite wird immer noch oft der politischen Erwartung nach gesicherten Fakten stattgegeben und es werden Sicherheiten behauptet, die nicht gegeben sind. Stattdessen sollten wir über so etwas wie Nichtwissenskommunikation oder gar Nichtwissenstransfer nachdenken. In vielen Fällen ist das genaue Wissen darüber, was nicht gewusst wird, das Beste, was man haben kann. Für die Gesellschaft wäre dies von Vorteil, da sie Einblick in aktuelle Prozesse erhält, anstatt sich mit Sicherheitsrhetorik begnügen zu müssen.

Es würde damit auch klarer werden, dass Nichtwissen nicht zwingend am Beginn eines Prozesses steht, sondern sich oft auch erst in dessen Verlauf ergibt. Schlussendlich ist die Auflösung von Nichtwissens in neue Lösungen meist mit der Erzeugung von neuem Nichtwissen verbunden. Das ist weder neu noch per se schlecht, sondern ein ganz normaler Aspekt des Alltags und fast jeder Entscheidung.

Zur Person

Prof. Dr. Matthias Groß ist Professor für Umweltsoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) das Department Stadt- und Umweltsoziologie.